Golem stiller Bruder
das seltsam und verstand die Geschichte nicht, deshalb habe ich den Geschichtenerzähler gefragt, warum der Vogel so etwas getan habe. ›Aus Liebe‹, hat er geantwortet. ›Er hat seine Kinder aus Liebe verstreut und er hat sie aus Liebe wieder gerufen. So wie der Messias am Ende aller Tage die Juden aus der ganzen Welt zusammenrufen wird.‹«
»Eine sonderbare Geschichte«, sagte Jente.
Jankel nickte. »Ja. Alle seine Geschichten waren seltsam und voller Wunder …« Er stockte.
P lötzlich fiel mir ein, dass dieser Geschichtenerzähler auch einmal etwas über einen Rabbi aus Prag erzählt hatte. Als den Juden von Prag wieder einmal die Vertreibung aus der Stadt drohte, hielt dieser Rabbi eines Tages die Kutsche des Kaisers an, indem er sich mitten auf der steinernen Brücke den Pferden in den Weg stellte. Die Leute, die sich versammelt hatten, um den Kaiser zu sehen und ihm zuzujubeln, ärger ten sich über ihn und bewarfen ihn mit Lehmbrocken und Steinen, aber der Rabbi, ein besonders frommer, gelehrter Mann mit der Kraft, Wunder zu vollbringen, sprach einen Zauber, und die Steine und Lehmbrocken verwandelten sich in der Luft zu Blumen und sanken um ihn herum zu Boden, sodass er in einem Blumenmeer zu stehen kam. Als der Kaiser das sah, war er so beeindruckt, dass er den Rabbi zu sich winkte und sich mit ihm unterhielt. Er lud ihn auf seine Burg ein und am Ende gewährte er der Prager Judenschaft einen neuen Schutzbrief.
Es war schon einige Jahre her, dass ich diese Geschichte gehört hatte. Ich hatte sie vergessen und vor allem hatte ich den Namen des Rabbis vergessen. Ich hatte wohl auch nicht auf ihn geachtet, denn damals hatte ich noch nichts davon gehört, dass ich einen Onkel in Prag hatte, einen Onkel, der Rabbi war, das hatte Tante Schejndl uns erst gesagt, als sie krank geworden war. Doch obwohl ich mich nicht erinnern konnte, hatte ich nun, auf dem Weg zu Mendel, dem Bäcker, auf einmal das Gefühl, als habe der Bucklige von einem »Hohen Rabbi« gesprochen. Ein Schauer lief mir über den Rücken. Ich war verwirrt und wollte Jente danach fragen, aber ich fürchtete, sie würde dann auch von mir sagen, ich hätte zu viel Fantasie, deshalb hielt ich meine Worte zurück. Vielleicht irrte ich mich ja auch.
J entes Stimme riss den Jungen aus seinen Gedanken. »Und als man Schmulik einmal auf dem Friedhof ertappte, wie er sich an einem Grab zu schaffen machte, behauptete er, der Verstorbene sei nachts über die Friedhofsmauer gekommen und habe von ihm verlangt, in seinem Grab nach einer frechen Wühlmaus zu suchen, die ihn nicht in Frieden ruhen lasse.«
»Vielleicht stimmt das ja«, sagte Jankel. »Die Refa’im*, die Geister der Verstorbenen, steigen oft nachts aus dem Reich der Toten ins Reich der Lebenden auf, weil es noch etwas gibt, das sie keine Ruhe finden lässt. Zum Beispiel eine Schuld, die sie nicht gesühnt haben.«
Jente nickte. »Ja, wegen einer ungesühnten Schuld, aber nicht wegen einer Wühlmaus! Hast du je gehört, dass die Toten sich durch Mäuse in ihrer Ruhe stören lassen?«
Bevor Jankel antworten konnte, bogen sie in eine Gasse ein, und er vergaß die Refa’im, er sog tief den Geruch ein, der ihm in die Nase stieg. Vielleicht war es auch nur die Ahnung eines Geruchs, die Erinnerung an einen Geruch.
Jente blieb vor einem Torbogen stehen. »Da ist es«, sagte sie.
Der Geruch war nun ganz deutlich. Aus dem Torbogen kamen zwei Frauen mit Brotlaiben in den Händen. Sie blieben stehen und starrten Jankel neugierig an. »Friede sei mit dir, Jente«, sagte eine von ihnen, eine schöne Frau mit einer sehr weißen Haut und mit schwarzen Haaren unter einem mausgrauen Kopftuch. »Ist das der Junge?«
»Ja, das ist er«, sagte Jente, und Jankel errötete unter den Blicken der Frauen, er zog die Schultern hoch und schaute zum Himmel, dessen Grau sich zu einem hellen Blau verfärbte. Jente legte ihm die Hand auf die Schulter und schob ihn weiter, durch den Torbogen in den Hinterhof, wo sich die Backstube befand.
Die Tür stand offen, trotzdem schlug ihnen, als sie eintraten, die Hitze entgegen wie eine Wand. Sie blieben im Eingang stehen. Jankel hatte noch nie eine Bäckerei gesehen, in Mo ř ina gab es keine, da bereiteten die Hausfrauen selbst den Teig vor und backten das Brot im Backhaus, das allen gemeinsam gehörte. Hier in der Backstube gab es den Backofen, an der Wand daneben war Holz aufgeschichtet, auch ein paar Reisigbündel lagen da. Es gab einen großen Tisch und eine in
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