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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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tust, wenn die Menschen schlafen.«
    Er machte eine ausholende Bewegung. »Das tue ich. Ich gehe durch die Stadt. Ich gehe, wohin ich will.«
    Ihre Augen blickten sehnsüchtig. »Das klingt wunderbar.«
    »Du sagst das, als würde dich irgendetwas davon abhalten, das Gleiche zu tun.«
    »Natürlich kann ich das nicht! Wie könnte ich nach Einbruch der Dunkelheit allein ausgehen? Ich würde auffallen, eine Frau ohne Begleitung auf der Straße. Das einzige Mal, dass ich nachts allein draußen war, war die Nacht, als wir uns begegnet sind.«
    »Heißt das, dass du jede Nacht in deinem Zimmer bleibst? Aber was machst du die ganze Zeit?«
    Sie zuckte unsicher die Achseln. »Ich flicke Kleider. Und schaue die Leute an, die vorbeigehen.«
    »Aber für dich wäre es doch überhaupt nicht gefährlich!«
    »Nehmen wir an, jemand nähert sich mir, ein Mann, der mich angreifen oder bestehlen will. Was, wenn ich mich ihm entwinde und er bemerkt meine Kraft? Oder schlimmer noch, wenn ich ihn verletze? Es würde sich herumsprechen – und was dann? Ich würde gejagt, bis sie mich finden. Unschuldige Menschen kämen zu Schaden.«
    Ihre Ängste spiegelten das Szenario wider, das Arbeely ihm geschildert hatte; aber sie fügte sich widerstandslos und nahm die Gefangenschaft hin, gegen die er kämpfte. Er bedauerte sie und hätte sie doch am liebsten weggestoßen. »Aber – wie hältst du das aus?«
    »Es ist schwierig«, sagte sie still. »Vor allem jetzt, wo die Nächte so lang sind.«
    »Und so willst du dein ganzes Leben verbringen?«
    Sie wandte sich von ihm ab. »Ich will nicht darüber nachdenken«, sagte sie. Sie wrang die Hände und blickte drein, als suchte sie nach einem Fluchtweg.
    »Aber warum kannst du nicht –«
    »Ich kann einfach nicht!«, rief sie. »Was immer du vorschlägst, ich habe schon darüber nachgedacht! Alles andere würde mich und andere in Gefahr bringen, und wie könnte ich so egoistisch sein? Aber es gibt Nächte, in denen ich nichts anderes will als fortlaufen! Ich weiß nicht, wie lange ich es noch –« Sie unterbrach sich und hob die Hand vor den Mund.
    »Chava …« Das Mitleid siegte, und er legte ihr die Hand auf den Arm.
    Sie stieß sie weg. »Fass mich nicht an!«, rief sie, wandte sich um und lief davon in die Dunkelheit des nächsten Saals.
    Er stand etwas verdattert da. Sie hatte sich mit erstaunlicher Kraft von ihm befreit. Damit hatte sie zumindest recht: Wenn andere ihre Stärke bemerkten, wäre sie bereits aufgefallen.
    Er fragte sich, ob es klug gewesen war, ihre Bekanntschaft zu suchen. Als sie sich zum ersten Mal begegnet waren, hatten ihre Angst und ihre Verschlossenheit seine Neugier geweckt; jetzt schienen sie nur Zeichen ihrer Schwäche, ihrer großen Probleme zu sein. Dennoch folgte er ihr in den nächsten Saal. Sie stand vor einem der größten Becken voller winziger farbenprächtiger Fische. Er ging zu ihr, hielt jedoch Abstand.
    »In diesem Becken sind fast hundert Fische«, murmelte sie. »Ich kann sie nicht richtig zählen, sie halten nicht still.«
    »Ich wollte dir nur helfen«, sagte er.
    »Ich weiß.«
    »Arbeely – der Kupferschmied, von dem ich dir erzählt habe – sagt auch, dass ich vorsichtig sein muss. Und ich weiß, dass er recht hat, bis zu einem gewissen Grad. Aber wenn ich mich für alle Zeit verstecke, werde ich wahnsinnig. Und keiner von uns beiden sollte jede Nacht allein mit seinen Ängsten verbringen.« Während er sprach, war ihm eine Idee gekommen. »Warum gehst du stattdessen nicht mit mir durch die Stadt?«
    Sie riss überrascht die Augen auf – und sofort fragte er sich, was ihn geritten hatte. Sie war so vorsichtig, so ängstlich! Sie würde ihn bestimmt zurückhalten wollen. Aber der Gedanke, wie sie eingesperrt in ihrem Zimmer saß, erfüllte ihn mit solchem Entsetzen – als wäre es sein Schicksal und nicht ihres –, dass er ihn ausgesprochen hatte, ohne wirklich darüber nachzudenken.
    Unsicher fragte sie: »Du bietest mir deine Gesellschaft an?«
    Er hielt sein Angebot resigniert aufrecht. »Sagen wir, eine Nacht in der Woche. Das ginge doch, oder? Eine Frau allein zieht Aufmerksamkeit auf sich, aber mit mir wärst du nicht allein.«
    »Und wohin genau willst du mit mir gehen?«
    Langsam erwärmte er sich für die Idee und versuchte, sie zu überzeugen. »Ich könnte dir vieles zeigen. Orte wie diesen.« Er deutete auf das Glas und das Wasser dahinter. »Die Parks, die Flüsse. Selbst wenn wir die ganze Nacht gehen, würden wir

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