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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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begann, vorsichtig mit dem Stock darauf einzustechen.
    Schließlich war ihre Neugier größer als ihre Vorsicht, und sie trat näher ans Fenster und sah ihm bei der Arbeit zu. Hin und wieder runzelte er die Stirn und rieb mit dem Daumen, über was immer er da machte, als wollte er einen Fehler korrigieren. Sie bemerkte, dass das Licht in ihm nicht über seinen Körper hinausstrahlte; denn obwohl seine Hände fast so hell waren wie die Lampe, blieb das Ding, das er hielt, im Dunkeln.
    Schließlich arbeitete er langsamer und hielt inne. Er hob den Gegenstand hoch, betrachtete ihn, drehte ihn in alle Richtungen, bevor er sich vorbeugte und ihn neben dem Laternenpfahl abstellte. Und dann, ohne sich auch nur einmal umzublicken, ging er auf der Straße in die Richtung davon, aus der er gekommen war.
    Der Golem wartete zehn Minuten. Dann wartete sie noch einmal fünf Minuten. Bald würde der Tag beginnen. Der Gehsteig belebte sich bereits. Ein, zwei, drei Leute gingen an der Straßenlaterne vorbei. Jemand würde bemerken, was immer er dort zurückgelassen hatte, und es mitnehmen. Oder es würde in den Rinnstein gestoßen und wäre verloren. Und dann würde sie nie erfahren, was es war.
    Sie griff nach ihrem Umhang und lief die Treppe hinunter. An der Haustür blieb sie stehen: War er zurückgekehrt, um auf sie, die Beute in seiner Falle zu warten? Sie öffnete die Tür einen Spaltbreit und steckte den Kopf hinaus, sah kein glühendes Gesicht, nur gewöhnliche Männer und Frauen. Sie ging zur Laterne, hob den Gegenstand auf und betrachtete ihn im Licht der Gaslaterne.
    Es war ein kleiner silberner Vogel, der sich noch warm anfühlte. Er hatte ihn geformt, als würde er auf dem Boden sitzen, die Beine unter den Körper gezogen. Der runde Rumpf lief in kurzen Schwanzfedern aus. Kleine Striche und Einkerbungen deuteten das Gefieder an. Der Kopf war zur Seite geneigt, und er sah sie konzentriert aus glatten halbrunden Augen an.
    Er hatte diesen Vogel mit bloßen Händen gemacht, während er unter ihrem Fenster gestanden hatte.
    Gründlich verwundert nahm sie den Vogel mit auf ihr Zimmer, setzte ihn auf den Tisch und betrachtete ihn, bis es Zeit war, zur Arbeit zu gehen.
    An diesem Morgen verbrannte sie zum ersten Mal ein Blech mit Plätzchen. An der Verkaufstheke gab sie zwei Kunden falsch heraus und reichte einer Frau ein Stück Plunder mit Pflaumen statt mit Quark. Sie schämte sich für ihre Fehler, aber alle anderen waren amüsiert – sie wurde so für ihre Genauigkeit gepriesen, dass es wie ein glückverheißendes Ereignis schien, sie bei einem Fehler zu erwischen, wie wenn man eine Sternschnuppe sieht.
    Anna war überglücklich. »Wie heißt er?«, flüsterte sie, als der Golem an ihrem Arbeitstisch vorbeikam.
    »Was?« Erschrocken starrte der Golem das Mädchen an. »Wie heißt wer?«
    »Ach, niemand.« Anna lächelte wie eine zufriedene Katze. »Vergiss es einfach.«
    Daraufhin ging der Golem auf die Toilette, um sich zu sammeln. Sie würde sich von dem glühenden Mann nicht verunsichern lassen. Sie musste ruhig sein und beherrscht, ihr bestes Selbst. Sie würde sich verhalten, wie der Rabbi es gewünscht hätte.
    Als sie am Abend nach Hause kam, stellte sie sich ans Fenster und wartete. Endlich, es war schon fast zwei Uhr morgens, kam er um die Ecke. Wieder war er allein. Er blieb neben dem Laternenpfahl stehen, offenbar in der Absicht, erneut die Nacht dort zu verbringen.
    Genug
, dachte sie. Sie zog ihren Umhang an, ging auf Zehenspitzen die Treppe hinunter und öffnete leise die Tür.
    Die Straße war verlassen, und durch die kalte Nachtluft klapperten ihre Schuhe laut auf der Treppe zur Pension. Er blickte überrascht drein; doch als sie sich ihm näherte, nahm er erneut eine selbstsichere, nonchalante Pose ein. Schweigend sahen sie einander an.
    »Geh fort«, sagte sie.
    Er lächelte. »Warum sollte ich? Mir gefällt es hier.«
    »Du bist eine Nervensäge.«
    »Wie ist das möglich? Ich steh doch nur auf dem Gehweg.«
    Sie starrte ihn an, steif und streng. Schließlich sagte er: »Was hätte ich denn sonst tun sollen? Du hast dich geweigert, zu bleiben und mit mir zu sprechen.«
    »Ja, weil ich nicht mit dir reden will.«
    »Das glaube ich nicht«, erwiderte er.
    Sie verschränkte die Arme. »Du bist mir nach Hause gefolgt und nennst mich jetzt eine Lügnerin?«
    »Du bist vorsichtig. Das verstehe ich. Solche Überlegungen sind mir nicht fremd.«
    »Hast du jemandem von mir erzählt?«
    »Niemandem.« Dann zuckte

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