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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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«
    Der Dschinn erstarrte entsetzt. Zwei Jungen, früh auf den Beinen und von dem Tumult angezogen, schoben sich aus der Tür, um den Vorfall zu beobachten. Der alte Mann schrie auf, wandte sich ab und ließ den Dschinn los. Der Dschinn wollte noch etwas sagen, doch der Mann lief schon die Treppe hinunter, eine Hand vor den Augen, und schwankte auf der Straße davon.
    »Alles in Ordnung, Mister?«, fragte einer der Jungen.
    »Ja, natürlich.« Das war gelogen. Er hatte solche Angst gehabt, dass er kurz überlegt hatte, den Mann die Treppe hinunterzustoßen.
    »Das war Eiscreme-Saleh«, sagte der andere Junge. »Er ist nicht ganz richtig im Kopf.«
    »Aha«, erwiderte der Dschinn. »Ein Verrückter. Und warum darf er hier leben?«
    »Er hält sich wohl an die Gesetze. Und er macht das beste Eis. Aber er kann niemandem ins Gesicht schauen. Dann wird ihm schlecht.«
    »Interessant«, sagte der Dschinn. »Danke.« Er fand zwei Pennys in seiner Manteltasche und gab jedem Jungen einen. Zufrieden liefen sie die Treppe hinunter.
    Der Dschinn war zutiefst verstört. Wenn dieser Mann – wer immer er war – ihn wirklich sehen konnte, war er dann noch sicher? Er konnte Arbeely nicht davon erzählen, der würde nur in Panik geraten und verlangen, dass der Dschinn bei zugezogenen Vorhängen in seiner Wohnung blieb. Und wenn der Fremde außerdem als wahnsinnig galt – und er sah eindeutig wie ein Irrer aus –, dann konnte alles, was er sagte, als Unsinn abgetan werden, dachte der Dschinn und beruhigte sich. Im Augenblick genügte es, wenn er wachsam war.
    Arbeely war gut gelaunt an diesem Morgen – eine weitere große Bestellung war eingegangen, diesmal waren es Suppentöpfe –, und er begrüßte den Dschinn freudig. »Guten Morgen! Hattest du eine aufregende Nacht? Hast du noch mehr Frauen aus Lehm getroffen? Oder Frauen, die aus etwas anderem gemacht sind?«
    Einen Augenblick lang dachte der Dschinn daran, mit ihm über den Golem zu sprechen. Arbeely wusste schließlich bereits von ihr; er hatte nur versprochen, niemandem sonst von ihr zu erzählen. Aber ihm gefiel die Vorstellung, ein Geheimnis vor Arbeely zu haben, etwas, weswegen der Mann nicht mit ihm schimpfen konnte.
    »Nein«, sagte der Dschinn. »Ich habe niemand Besonderen getroffen.« Dann nahm er sein Werkzeug und band sich die Schürze um. Arbeely wuselte in der Werkstatt herum – und war so klug wie zuvor.

Kapitel  14
    N ach drei Tagen im Krankenhaus von Swinburne Island fiel Michael Levys Fieber. Die Ärzte behielten ihn noch zwei Wochen da, gaben ihm Brühe und zerdrücktes Gemüse zu essen, stützten ihn, während er in den zugigen Fluren auf und ab ging. Er sei unterernährt, erklärten sie, und gefährlich anämisch. »Heiraten Sie«, rieten sie ihm. »Sie brauchen eine Frau, die Sie mästet.«
    Er aß und schlief, und sein Körper heilte. Vom Wohnheim kam ein Brief mit Wünschen zu einer raschen Genesung, was er so interpretierte, dass das Personal ohne ihn nicht zurechtkam. Eines Nachts erwischten ihn die Krankenschwestern dabei, wie er durch die Station ging und mit den Patienten sprach, sie ermutigte, noch einmal die Einreise zu versuchen. Sie scheuchten ihn zurück ins Bett und drohten damit, ihn wieder ans Bett zu fesseln.
    Kurz vor Silvester wurde Michael entlassen. Er stand an der Reling der Fähre, dick eingepackt gegen den eisigen Wind, der das Wasser dunkel färbte und aufwühlte. Er hatte fünf Pfund zugenommen und sich seit Monaten nicht mehr so gut gefühlt. Er hielt die Krankheit mittlerweile für ein seltsames Abschiedsgeschenk seines Onkels, eine Gelegenheit, sich auszuruhen und umsorgen zu lassen. Vielleicht nicht ganz so erholsam wie das Wasser von Saratoga, aber das Beste, was er bekommen konnte.
    Die Fähre legte ab und kämpfte gegen die Strömung an. Es war bereits Nacht. Staten Island und Brooklyn schlummerten zu beiden Seiten, die Holzhäuser am Ufer waren für den Winter geschlossen. Am nördlichen Ende der Bucht tauchte die Spitze von Manhattan auf, und Michaels Gleichmut geriet ins Wanken. Was für ein Chaos erwartete ihn im Wohnheim? Der Wind frischte auf, aber er blieb an Deck und sah zu, wie die Freiheitsstatue vorüberglitt, und versuchte, Kraft aus ihrer Ruhe und ihrem mitfühlenden Blick zu ziehen.
     
    Im Wohnheim war das Licht gerade gelöscht worden. Einhundertfünfzig Männer lagen auf ihren Pritschen unter dünnen Decken. Manche waren wach, hatten Angst vor ihrem neuen Leben; andere schliefen

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