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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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erschöpft nach der langen Reise oder einem Tag auf der Suche nach Arbeit.
    Auf einer Pritsche nahe dem Fenster im zweiten Stock schlief der Mann, der jetzt unter dem Namen Joseph Schall bekannt war, so tief und friedlich wie ein kleines Kind.
    Der reine Zufall hatte Schaalman in das Wohnheim geführt. Nachdem der Bürokrat auf Ellis Island seinen Namen geändert hatte – zahllose rachsüchtige Verwünschungen lagen ihm auf der Zunge, doch er schluckte sie alle hinunter –, war er die breite Treppe hinuntergegangen und hinter den großen Fenstern am Ende des Flurs hatte sich die Skyline von Manhattan vor ihm ausgebreitet. Es war ein furchteinflößender und majestätischer Anblick, und er blieb wie angewurzelt stehen. Seitdem er von der Stadt geträumt hatte, wusste er, dass die vor ihm liegende Aufgabe schwierig war; aber jetzt, da er das Häusermeer jenseits der Bucht vor sich sah, erschien sie ihm schlechterdings unlösbar. Er sprach kein Englisch, war nicht an Menschen und Menschenmengen gewöhnt, wusste nicht einmal, wo er schlafen sollte. Gab es in New York Gasthäuser? Oder Ställe? Ställe musste es doch wohl geben?
    Eine Hand berührte ihn am Arm, und er wandte sich erschrocken um. Es war eine junge Frau mit pausbäckigem Gesicht. Sie fragte: »Sprechen Sie Jiddisch, Sir?«
    »Ja«, antwortete er argwöhnisch.
    Sie erklärte, dass sie ehrenamtlich für den Hilfsverein für jüdische Immigranten arbeitete. Brauchte er irgendetwas? Durfte sie ihm ihre Hilfe anbieten?
    Zu jeder anderen Zeit und an jedem anderen Ort hätte er nach ihren Schwächen gesucht, um sie auszunutzen oder sie verwirrt und dann ausgeraubt. Aber jetzt, müde, deprimiert und ratlos, griff er zu einem ihm verhassten Schachzug: der Wahrheit. »Ich habe keine Unterkunft«, sagte er.
    Sie nannte ihm einen Ort namens Jüdisches Wohnheim und erklärte ihm, dass er mit einem Boot dorthin kommen könne. Widerspruchslos folgte er ihr hinaus zu den Docks und klammerte sich an seinen Koffer wie ein erschrockenes kleines Kind.
    Doch nach einem Tag im Wohnheim hatte er sein altes Selbstvertrauen wiedergefunden. Auf gewisse Weise entsprach das Leben dort dem Leben im Gefängnis. Die Pritschen, die Schlafsäle, die schmutzigen Toiletten, die gemeinsamen Mahlzeiten, die ständig wechselnden Gesichter: Es war ein Ort, den er verstand, mit Personal, das er manipulieren konnte, und Regeln, die er für seine Zwecke zurechtbiegen oder brechen konnte. Alles in allem der perfekte Schlupfwinkel.
    Im Wohnheim gab es nur zwei Regeln, die absolut verbindlich waren: Die Mahlzeiten mussten im Speisesaal zu den vorgesehenen Zeiten eingenommen werden, und kein Mann durfte länger als fünf Tage bleiben. Die zweite Regel zu brechen erwies sich als noch einfacher, als die erste zu umgehen. Dank eines glücklichen Zufalls war der Direktor des Wohnheims erkrankt. Die Köchin und die Haushälterin übernahmen seine Pflichten und rannten den ganzen Tag hektisch hin und her in dem Versuch, die Ordnung aufrechtzuerhalten. An Schaalmans drittem Tag gingen vierzig Neuankömmlinge von Bord der Fähre und klopften an die Tür. Da es nur achtzehn freie Betten gab, standen die Männer verunsichert im Flur, während die Köchin und die Haushälterin nach der Liste suchten, die alles geklärt hätte. Da die Liste unauffindbar blieb, gingen sie, den Tränen nahe, in jeden Schlafsaal und baten alle Männer, sich freiwillig zu melden, wenn sie schon länger als fünf Tage da waren. Alle starrten sie ausdruckslos an, niemand meldete sich. Da ständig so viele Männer kamen und gingen und viel Zeit damit verbrachten, nach Arbeit oder einer Wohnung zu suchen, wussten selbst die, die Rechtsbrecher verraten hätten, nicht, auf wen sie deuten sollten.
    Aber Schaalman beobachtete sie seit seiner Ankunft. Jetzt schaute er sich um und sah eine Anzahl Männer, die schon da gewesen war, als er eingetroffen war. Während die Frauen um Meldung baten, erkannte er die verräterischen Zeichen des schlechten Gewissens und der Renitenz in ihren Gesichtern. Er nahm die Frauen für ein kurzes Gespräch beiseite. Mit seiner Hilfe wählten sie aus dem Kreis der Neuankömmlinge zwei starke Männer aus, die dann von Schlafsaal zu Schlafsaal gingen und unter den Augen von Schaalman, einem strengen, doch gnädigen Richter, die Übeltäter hinauswarfen.
    Die Köchin und die Haushälterin konnten ihm nicht genug danken. Er helfe gern, erwiderte er – die Ordnung musste selbstverständlich aufrechterhalten

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