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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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nur einen winzigen Bruchteil der Stadt sehen. Wenn du nicht mehr als dein eigenes Viertel kennst, hast du keine Vorstellung.« Zu seiner Überraschung musste er feststellen, dass seine Begeisterung nicht mehr geheuchelt war.
    Sie wandte sich wieder den Fischen zu, als erhoffte sie von ihnen eine Antwort oder eine Bestätigung. »Na gut«, sagte sie schließlich. »Erstmal nur eine Nacht. Heute in einer Woche. Aber da ist etwas, was du zuvor wissen musst. Sonst wäre es nicht fair dir gegenüber.« Sie nahm unübersehbar allen Mut zusammen und fuhr fort: »Als du mir erzählt hast, was mit dir passiert ist – mit dem Zauberer –, hast du damit eine Frage beantwortet. In dir ist ein
Bedürfnis.
« Er sah sie fragend an, doch sie sprach weiter. »Ein Golem wird normalerweise von einem Meister beherrscht. Ein Golem spürt die Gedanken seines Meisters, und reagiert darauf, ohne nachzudenken. Mein Meister ist tot. Aber diese Fähigkeit ist mir geblieben.«
    Er brauchte einen Augenblick, bis er begriff, was sie sagte. Er spürte, wie er vor ihr zurückschreckte. »Du kannst Gedanken lesen?«
    Sie schüttelte rasch den Kopf. »So eindeutig ist es nicht. Ängste, Wünsche. Bedürfnisse. Wenn ich nicht aufpasse, überwältigen sie mich. Aber – du bist anders.«
    »Inwiefern anders?«
    »Schwerer zu erkennen.« Sie sah ihm jetzt ins Gesicht; er unterdrückte den Impuls zurückzuweichen. »Ich sehe dein Gesicht, als wäre es von innen hell und von außen schattig. Mit deinen Gedanken ist es genauso. Als ob ein Teil von dir ständig darum kämpft, frei zu sein. Das überschattet alles.«
    Damit hatte er nicht gerechnet. Er verstand jetzt ihre unheimliche Ausstrahlung, ihre Fähigkeit, etwas Unhörbares zu hören; doch ihre Erklärung dafür war noch beunruhigender.
    »Ich wollte nur, dass du es weißt«, sagte sie. »Ich verstehe, wenn du dein Angebot zurückziehen willst.«
    Er überlegte. Es ging nur um eine Nacht. Wenn sie sich als zu gruselig erweisen sollte, würde er sich von ihr trennen.
    »Mein Angebot steht«, sagte er. »Eine Nacht. Heute in einer Woche.« Und sie lächelte.
    Sie verließen das Aquarium und gingen zurück in ihr Viertel. Die Straßen waren ungewöhnlich still, nur hier und da durchbrach der Schein eines erleuchteten Fensters die Dunkelheit. Er merkte, dass er seine eigenen Gedanken überprüfte; er fand keine Wünsche, deren er sich hätte schämen müssen, sollte sie sie spüren. Und seine Ängste? Gefangenschaft, Langeweile, Entdeckung. Nichts, was sie nicht auch kannte.
    Vielleicht wird es doch nicht so schrecklich
, dachte er. Sie würden durch die Stadt gehen und miteinander reden. Zumindest würde er etwas Neues erleben.
    Sie blieben in der Straße einen Block vor ihrer Pension stehen, sie hatte es so gewollt, damit ihre Nachbarn sie nicht sehen konnten. Er fragte: »Habe ich dich wenigstens davon überzeugt, dass ich dir nichts Böses will?«
    Sie lächelte leise. »So gut wie.«
    »Das muss reichen. Bis nächste Woche.« Er drehte sich um.
    »Warte.« Sie berührte seinen Arm. »Bitte, vergiss dein Versprechen nicht. Ich darf nicht entdeckt werden. Auch wenn du mich gefunden hast, niemand sonst darf mich finden.«
    »Ich halte meine Versprechen«, sagte er. »Und ich vertraue darauf, dass das auch für dich gilt.«
    Sie nickte. »Selbstverständlich.«
    »Dann sehe ich dich in sieben Nächten.«
    »Auf Wiedersehen«, sagte sie und verschwand ohne weitere Umstände um die Ecke.
     
    Er ging nach Hause, unsicher, was er gerade in sein Leben gelassen hatte. Es war noch früh, gegen vier Uhr morgens. Er wollte an einer seiner Figuren arbeiten – an einem halb fertigen Ibis, dessen Proportionen falsch waren, der Schnabel stimmte nicht, die Beine waren zu dick.
    Als er die Treppe zu seinem Haus hinaufging, stellte sich ihm eine Gestalt in den Weg. Es war ein alter, hagerer Mann, der in Schichten von Lumpen und einen schmutzigen Mantel gewickelt war. Um seinen Kopf trug er einen schmuddligen Schal. Die Haltung des Mannes, sein düsterer vorwurfsvoller Blick ließen darauf schließen, dass er auf ihn gewartet hatte.
    »Was bist du?«
, krächzte der Mann.
    Der Dschinn runzelte die Stirn. »Wie bitte?«
    »Ich kann dich ansehen«, sagte der Mann. »Der Tod ist nicht in deinem Gesicht.« Sein Tonfall war hysterisch, seine Augen so weit aufgerissen, dass das Weiße darin leuchtete. Er packte den Dschinn am Mantel und schrie ihm ins Gesicht. »Ich kann dich sehen! Du bist aus Feuer!
Sag mir, was du

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