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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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Erinnerung stieg in ihm auf: ein aus Holz geschnitztes Lämmchen an einer Schnur und mit Rädern unter den Beinen. Das Lieblingsspielzeug seiner Tochter. Sie zog es stundenlang durch den Hof und rief »Määh, määh«. Er grinste mit steifen Lippen, fixierte den Blick auf den glühenden Mann und ging weiter.
Määh.
    Weiter und weiter marschierten sie, bis in den Gebäuden zu beiden Seiten keine Geschäfte mit Schaufenstern mehr waren, sondern sich die gigantischen Klinkerhäuser hinter hohen schwarzen Zäunen verbargen. Trotz seiner verschatteten Sicht sah er die glänzenden Marmorsäulen und die Reihen der erhellten Fenster. Was wollte der Mann hier bloß?
    Vor dem vielleicht prächtigsten Haus von allen wurde der Mann langsamer, ging daran vorbei und bog ab. Saleh folgte ihm, steckte den Kopf um die Ecke und sah gerade noch, wie der glühende Mann durch den Eisenzaun trat. Vertrocknetes Laub raschelte.
    Er stolperte bis zu der Stelle, an der der Mann verschwunden war. Zwei Gitterstäbe des Zauns fehlten. Dahinter wuchs Gestrüpp, dicht wie eine abweisende Mauer.
    Der glühende Mann hatte sich durchgequetscht, oder? Dann sollte auch Saleh dazu in der Lage sein.
    Er stieg über die unterste Strebe und wäre fast in die Hecke gestürzt. Zwischen Zaun und Hecke war ein kleiner Zwischenraum, und er zwängte sich seitlich hindurch, bis er auf der anderen Seite stand, am Rand eines riesigen Gartens, in dem ein ebenso riesiges Haus stand und der von einer hohen Ziegelmauer abgeschlossen wurde. Selbst mitten im Winter zeugte der Garten von herrschaftlicher Eleganz. Dunkle immergrüne Einfassungen säumten leere Blumenbeete. Neben der hohen Mauer wuchsen strenge, kahle Bäume, die Äste beschnitten in Form von Kandelabern. Neben dem Haus befand sich eine Terrasse, in der Mitte ein marmorner Springbrunnen, dessen Becken mit totem Laub gefüllt war.
    Wie es schien, war der glühende Mann verschwunden. Doch als Saleh nach oben blickte, sah er, wie er das Haus hinaufkletterte, sich von Abflussrohr zu Geländer schwang. Saleh fielen fast die Augen aus dem Kopf. Selbst in seiner Jugend hätte er so etwas nicht zustande gebracht. Der Mann sprang jetzt auf einen der größeren Balkone im obersten Stock und war nicht mehr zu sehen.
     
    Der Dschinn stand auf Sophias Balkon, der Türgriff in seiner Hand rührte sich nicht. Abgeschlossen. Er legte eine Hand ans Glas und spähte hinein.
    Das Zimmer sah dunkel und verlassen aus. Der Schreibtisch und die Kommode waren mit weißen Tüchern bedeckt. Das Bett war nicht bezogen. Sophia Winston, so schien es, wohnte hier nicht mehr.
    Auf den Gedanken, dass sie nicht da sein könnte, wäre er im Traum nicht gekommen. Für ihn war sie eine Prinzessin gewesen, gefangen in einem Palast aus Ziegeln und Marmor, in dem sie auf ihre Befreiung wartete. Aber natürlich war es nicht so. Sie war eine reiche junge Frau. Wahrscheinlich konnte sie hingehen, wohin immer sie wollte.
    Sein Zorn und seine Vorfreude verrauchten. Wäre er besser gelaunt gewesen, hätte er über sich selbst gelacht. Was sollte er jetzt tun? Mit eingezogenem Schwanz in die Washington Street zurückkehren?
    Während er dastand und überlegte, wurde die Tür auf der anderen Seite von Sophias Zimmer geöffnet. Eine Frau in einem schlichten schwarzen Kleid mit Schürze trat ein, in der Hand einen großen Staubwedel.
    Sie sah den Dschinn und erstarrte. Der Staubwedel fiel ihr aus der Hand.
    Der gellende Schrei des Dienstmädchens rüttelte am Fensterglas, der Dschinn fluchte, sprang auf die Brüstung und fasste nach dem Abflussrohr.
     
    Saleh stand schwankend mitten im Garten.
    Vielleicht
, dachte er,
sollte ich mich setzen und warten.
    Im nächsten Augenblick knickten seine Beine ein wie Strohhalme. Der gefrorene Boden nahm ihn auf und saugte die Wärme aus ihm. Die dunklen Fenster und Balkone starrten auf ihn hinunter. Sein Blick schweifte zum Dach, auf dem über den Giebeln vier Schornsteine in einer Reihe standen. Aus einem stieg grauweißer Rauch auf. So viele Schornsteine für ein einziges Haus.
    Ihm fielen die Augen zu, und der Lärm der Welt wurde leiser. Wellen der Erschöpfung rollten über ihn hinweg, fast wie die Wehen einer gebärenden Frau. Als wäre dieser Gedanke Wirklichkeit geworden, glaubte er, den Schrei einer Frau zu hören. Schließlich stieg in seiner Mitte langsam eine schläfrige Wärme auf und breitete sich in seinem ganzen Körper aus.
    Jemand versuchte, eins seiner Lider zurückzuschieben.
    Gereizt wollte

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