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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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Arbeitshose schützten ihn vor der eiskalten Luft, doch das schien ihm nichts auszumachen. Die Leute auf dem Gehweg machten einen Bogen um ihn. Er marschierte nach Norden zum Gemüsemarkt.
    Saleh hatte ihn noch nie zuvor bei Tag gesehen. Und wenn er zu lange wartete, würde er ihn aus den Augen verlieren.
    So schnell wie möglich zog er seinen Wagen zu Maryam. Sie musste ihn gesehen haben, denn sie stand schon vor der Tür, als er ankam.
    »Mahmoud! Was ist los?«
    »Maryam«, keuchte er, »ich bitte dich – bitte pass für mich auf meinen Wagen auf. Kannst du das?«
    »Natürlich!«
    »Danke.« Und dann wandte er sich nach Norden und nahm die Verfolgung des glühenden Mannes auf.
     
    Nie zuvor war der Dschinn so wütend gewesen. Er hatte kein bestimmtes Ziel, er wollte nur weg von seinem kleingeistigen Arbeitgeber. Nach allem, was der Dschinn für ihn getan hatte, nachdem er Tag für Tag Töpfe geflickt hatte, bis er glaubte, er würde vor Langeweile sterben, hatte der Mann nichts anderes im Sinn, als sich darüber zu beschweren, wie viel Blech er verbraucht hatte! Die Aufträge, die er ihm gebracht hatte, das Geld, das er für ihn verdient hatte, und jetzt diese fristlose Entlassung?
    Der Verkehr wurde dichter, als er sich dem Markt näherte, und zwang ihn, langsamer zu gehen und sich zu überlegen, wohin er wollte. Sein Zorn verlangte jetzt nach einem Ziel. Seit Wochen hatte er nicht mehr an Sophia Winston gedacht, doch jetzt sah er ihr Gesicht vor sich, ihre stolzen und schönen Züge. Und warum denn nicht? Vielleicht wäre sie wegen seiner Dreistigkeit wütend auf ihn; aber vielleicht stünde ihm ihre Tür auch offen wie zuvor.
    Er dachte daran, die Hochbahn zu nehmen, aber er wollte nicht eingezwängt zwischen Fremden sitzen und sich ihre Zeitungen aus dem Gesicht schieben müssen. Eine Stimme flüsterte ihm ein, dass es nicht gut wäre, zu Sophia zu laufen, dass er danach immer noch nichts mit sich anzufangen wüsste, aber er ignorierte sie und beschleunigte den Schritt.
     
    Einen halben Block hinter ihm kämpfte Mahmoud Saleh darum, den glühenden Mann nicht aus den Augen zu verlieren. Es war nicht leicht: Der Mann hatte lange Beine und wurde von Wut getrieben. Um Schritt zu halten, musste Mahmoud fast rennen, stieß gegen Menschen, Handwagen, Mauern, entschuldigte sich murmelnd bei allem und jedem. Er schlängelte sich durch ein Gewirr von Pferden, Fuhrwerken und Fußgängern und trat in Pfützen aus halb gefrorenem Matsch. An jeder Kreuzung rechnete er mit einem tödlichen Zusammenstoß mit einem Fuhrwerk und trampelnden Pferdehufen, doch seltsamerweise passierte es nie. An einer Ecke machte er einen falschen Schritt, stürzte und landete auf der Schulter. Schmerz durchfuhr seinen Arm, aber er stand auf und lief weiter, drückte den Arm fest an den Körper.
    Allmählich dämmerte ihm, dass er ohne Hilfe nie wieder nach Hause finden würde. Er konnte nicht einmal die Schilder lesen. Die einzigen englischen Wörter, die er außer
Entschuldigung
kannte, waren
Hallo, danke
und
Eiscreme.
    Fast erleichtert fand er sich mit seinem Schicksal ab. Entweder würde ihn der glühende Mann nach Hause führen, oder er würde seinen letzten Tag auf Erden in einer unbekannten Straße, umgeben von Fremden verbringen. Am nächsten Morgen wäre er nur noch ein erfrorener Bettler, namenlos und unbeweint. Er war darüber nicht traurig, sondern fragte sich nur, was Maryam mit seiner Eismaschine machen würde.

    Thomas Maloof aufzuspüren, war letztlich keine große Mühe. Arbeely ging in den Wohnblock des Hausbesitzers – stellte im Vorübergehen fest, dass die fragliche Decke tatsächlich in ziemlich schlechtem Zustand war – und klopfte an Türen. Er entschuldigte sich bei den Frauen, die öffneten, und fragte, ob sie wüssten, wo Thomas Maloof wohnte. Sie wussten es nicht, da er nur selten vorbeikam, sondern einen Jungen schickte, um die Miete zu kassieren. Nach einer Weile kam Arbeely auf die Idee, nach dem Jungen zu fragen.
    Der Junge hieß Matthew Mounsef und wohnte im vierten Stock. Seine Mutter, eine müde wirkende Frau, die mit ihren dunklen Augenhöhlen und der blassen Haut krank aussah, erklärte, dass Matthew in der Schule sei und um drei Uhr nach Hause käme. Die Zeit bis dahin verbrachte Arbeely nervös und frustriert in seiner Werkstatt. Jetzt, da er wusste, was die Blechdecke darstellte, musste er ständig darauf schauen. Während der Tag voranschritt, tauchte die Wintersonne sie in unterschiedliches

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