Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
Vom Netzwerk:
brauchst du was zu essen.«
    »Ich habe kein Geld«, murmelte Saleh.
    Der glühende Mann seufzte. »Ich zahle.«
    Sie fanden eine schlichte, saubere Imbissstube voller Männer, die von der Spätschicht kamen. Der glühende Mann kaufte zwei Schüsseln Suppe. Saleh aß langsam aus Angst, seinen Magen zu überfordern, und drückte den verletzten Arm fest an sich. Die Suppe wärmte ihn, es war eine ehrliche Wärme. Der glühende Mann rührte seine Suppe nicht an, sondern sah Saleh zu. Schließlich fragte er: »Waren deine Augen schon immer so?«
    »Nein. Es hat vor zehn Jahren angefangen.«
    »Und du kannst überhaupt keine Gesichter sehen?«
    Saleh schüttelte den Kopf. »Nein, so ist es nicht. Ich sehe die Gesichter nicht so – wie sie wirklich sind. Sie haben Löcher.« Die Kehle schnürte sich ihm zu. »Wie Totenschädel. Wenn ich sie ansehe, wird mir schlecht und ich habe einen Anfall. Und es sind nicht nur die Gesichter – die ganze Welt ist verzerrt. Es ist eine Art Epilepsie, die mein Sehvermögen in Mitleidenschaft zieht.«
    »Wie ist das passiert?«
    »Nein«, sagte Saleh. »Ich habe dir genug erzählt. Jetzt erzähl du mir, warum ich dich sehen kann.«
    »Vielleicht weiß ich es nicht.«
    Saleh lachte hart. »Oh, du weißt es. Das kann ich sehen.« Er aß noch einen Löffel Suppe. »Ist es eine Krankheit?«
    Die Miene des Mannes wurde finster. »Wie kommst du darauf, dass ich
krank
bin?«
    »Es erscheint mir logisch. Wenn gesunde Menschen in meinen Augen tot aussehen, dann sieht ein kranker Mensch vielleicht heil und glühend aus.«
    Der Mann schnaubte beleidigt. »Wozu ist Logik gut, wenn sie dich weit in die falsche Richtung führt?«
    »Dann sag es mir«, verlangte Saleh, der allmählich gereizt wurde.
    Es folgte ein langes Schweigen, während der glühende Mann ihn eingehend betrachtete. Dann neigte er sich vor, schaute tief in Salehs Augen, als suchte er nach etwas. Saleh erstarrte, und ihm war mulmig zumute, als das glühende Gesicht sein gesamtes Sichtfeld einnahm. Er spürte, wie sich seine Pupillen verengten.
    Der Mann nickte und lehnte sich zurück. »Ich kann es sehen«, sagte er. »Ganz schwach, aber es ist da. Vor zehn Jahren warst du noch in Syrien, nicht wahr?«
    »Ja. In Homs.
Was
kannst du sehen?«
    »Das Ding, das von dir Besitz ergriffen hat.«
    Saleh erstarrte erneut. »Das ist absurd. Ein Mädchen hatte Fieber. Ich habe sie behandelt und es mir geholt. Das Fieber war die Ursache für die Epilepsie.«
    Der glühende Mann schnaubte verächtlich. »Du hast dir mehr geholt als nur Fieber.«
    »Beduinen wie du neigen vielleicht zu dieser Art Aberglauben, aber es ist einfach nicht möglich.«
    Der glühende Mann lachte, als hätte er ein Geheimnis in der Jackentasche und wartete nur auf den richtigen Augenblick, um es herauszuziehen.
    »Also gut«, sagte Saleh. »Du behauptest, dass etwas in mich gefahren ist. Ein Kobold wahrscheinlich oder ein Dschinn.«
    »Kein Dschinn. Wahrscheinlich ein niederer Ifrit.«
    »Ah, ich verstehe. Und hast du auch Beweise dafür?«
    »Tief in deinem Kopf ist ein Funken. Ich kann ihn sehen.«
    »Ein
Funken?
«
    »Ein winzigkleines Schwelen, das übrig geblieben ist. Das Zeichen von etwas Flüchtigem.«
    »Und ich nehme an«, sagte Saleh sarkastisch, »dass das halbe Dutzend Ärzte, die mich untersucht haben, es nicht sehen konnten.«
    »Sehr wahrscheinlich nicht, ja.«
    »Aber du kannst es sehen.« Saleh lachte auf. »Und wer bist
du
, dass du dazu in der Lage bist?«
    Der Mann lächelte, als hätte er darauf gewartet, dass Saleh diese Frage stellte. Er nahm seinen Suppenlöffel, der genauso aussah wie Salehs: dickes hässliches Blech, dazu gemacht, jahrelang den Gästen zu trotzen. Er schaute sich um, als wollte er sichergehen, dass niemand sie beobachtete. Dann zerknüllte er den Löffel in der Hand, als wäre er ein Stück Papier. Seine Hand glühte heller – und geschmolzenes Metall tropfte in die Suppenschüssel des Mannes, die er nicht angerührt hatte. Die Suppe zischte und dampfte.
    Saleh schob sich so heftig vom Tisch zurück, dass sein Stuhl umfiel. Die anderen Gäste blickten zu ihm, als er schwankend aufstand. Der glühende Mann wischte sich nonchalant die Hand an der Serviette ab.
    Das Gerüst aus Vernunft und Verstand, das Saleh all diese Jahre aufrechterhalten hatte, begann an den Fundamenten zu wanken.
    Er drehte sich um und schlurfte zur Tür, wagte es nicht zurückzublicken. Erst als er auf der Straße stand, fiel ihm ein, wie kalt es war

Weitere Kostenlose Bücher