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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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überall in dieser Stadt um diese Uhrzeit.«
    »Das ist nicht sehr beruhigend.«
    »Für dich und mich ist es vollkommen sicher. Komm schon.«
    An seiner Haltung und seinem Tonfall erkannte sie, dass er wieder einmal ruhelos und starrsinnig gestimmt war. Widerstrebend folgte sie ihm und entschied, dass sie ihn dazu zwingen würde umzukehren, wenn es ihr zu bedrohlich erschien.
    Sie stiegen eine Hintertreppe hinauf. Als der Golem das hohe, mit Teerpappe bedeckte Dach des Mietshauses betrat, wusste sie, dass er gewonnen hatte: Das Geschehen war zu faszinierend, als dass sie wieder hätte gehen können. Die Dächer waren wie eine verborgene Straße mit geschäftigem, nächtlichem Verkehr. Männer, Frauen und Kinder kamen und gingen, erledigten Aufträge, gaben Nachrichten weiter oder waren einfach nur unterwegs nach Hause. Arbeiter in schmutzigen Overalls hatten sich um Aschetonnen versammelt und diskutierten lautstark, ihre Gesichter rot im flackernden Feuerschein. Jungen mit wachsamen Augen trieben sich in Ecken herum. Der Golem hatte den Eindruck, dass sie alle auf der Hut waren, aber den Dschinn schienen sie zu kennen. Das Misstrauen richtete sich vielmehr gegen sie: eine fremde Frau, groß, sauber und anständig angezogen. Ein paar der jüngeren Jugendlichen hielten sie für eine Frau von der Fürsorge und verkrochen sich in den Schatten.
    Ihr wurde klar, dass man durch die ganze Lower East Side gehen konnte, ohne auch nur einmal den Fuß auf den Boden zu setzen, wenn man sich auf den Dächern auskannte. Viele Dächer erstreckten sich über einen ganzen Block, unterteilt nur von niedrigen Mauern, wo ein Wohnhaus ans nächste grenzte. Dort, wo ein Haus höher als das andere war, waren Strickleitern aufgehängt. An manchen Stellen überbrückten Planken die Abgründe, wo tief unten schmale Gassen verliefen. Der Dschinn überquerte gleichmütig die erste Brücke, ohne die vier Stockwerke hinunterzublicken, dann drehte er sich um und wartete auf sie. Zum Glück erwies sich die Brücke als stark und stabil genug, sodass sie ohne Angst hinübergehen konnte. Er zog beeindruckt die Augenbrauen in die Höhe, und sie schüttelte den Kopf. Sie wusste nicht, ob es sie mehr irritierte, dass er die Aufgabe für zu schwierig für sie gehalten hatte oder dass sie so verrückt gewesen war, sich von ihm ködern zu lassen.
    Sie gingen gerade über ein besonders bevölkertes Dach, als ein Schrei alle veranlasste, sich umzusehen: Ein Mann rannte über die Dächer auf sie zu, gejagt von einem uniformierten Polizisten. Der Polizist war schnell, aber der Gejagte war schneller, setzte über Simse und Schornsteine wie ein Pferd bei einem Springreiten. Alle traten zur Seite, als der Mann vorbeirannte. Er hechtete über eine Brücke, lief zur Tür eines Treppenhauses, riss sie auf und verschwand. Der Polizist blieb keuchend neben ihnen stehen, eindeutig nicht erfreut über die Vorstellung, dem Mann die Treppe hinunter in ein dunkles Mietshaus zu folgen. Mürrisch blickte er sich um, und alle Zuschauer wandten ihre Aufmerksamkeit plötzlich anderen Dingen zu. Dann bemerkte er den Dschinn, lächelte und tippte sich zum Spaß an die Mütze. »Da ist ja der Sultan. Ich wünsche einen guten Abend.«
    »Wachtmeister Farrely«, sagte der Dschinn.
    »Du wirst im Alter auch nicht schneller, Farrely«, höhnte ein grauhaariger betrunkener Mann, der an eine Mauer gelehnt in ihrer Nähe saß.
    »Für dich bin ich noch immer schnell genug, Scotty.«
    »Na los, nimm mich fest. Eine warme Mahlzeit käme mir gerade recht.«
    Der Polizist ignorierte ihn, nickte den Umstehenden zu und ging den Weg zurück, den er gekommen war.
    »He, Sultan«, sagte der Mann namens Scotty. »Wer ist deine Freundin?« Seine wässrigen Augen schauten zum Golem, und ohne auf eine Antwort zu warten, fuhr er fort: »Also, Fräulein, wenn Ihr Freund da der Sultan ist, dann sind Sie wahrscheinlich eine Sultanine!« Und er keuchte vor Lachen, während sie weitergingen.
    Schließlich erreichten sie ihr Ziel: ein besonders gut platziertes Dach mit einem großen Wasserturm in einer Ecke. Um etwaige Interessenten abzuschrecken, endete die Leiter knapp zwei Meter über dem Boden; der Dschinn hüpfte, fasste nach der untersten Sprosse und zog sich hoch, eine Sprosse nach der anderen, bis er auf einem breiten Sims stand, der in der Mitte um den Turm führte. Er neigte sich über das Geländer. »Kommst du?«
    »Wenn nicht, wirst du sagen, dass ich mich nicht traue, und wenn ich es mache,

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