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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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»Seltsam, dass wir Freunde sein können. Ich hoffe, dass du mich als Freundin betrachtest und nicht als Last. Ich möchte nicht, dass dir vor unseren Spaziergängen graut.« Sie sah ihn kurz an, als wäre sie verlegen. »Ich fühle mich komisch, weil ich es nicht weiß. Wärst du jemand anders, müsste ich nicht fragen.«
    Er brauchte einen Augenblick, bis er antworten konnte, bis er sich traute, ebenso ehrlich zu sein wie sie. »Ich freue mich auf unsere Ausflüge. Ich glaube, ich freue mich sogar auf unsere Meinungsverschiedenheiten. Du verstehst, wie mein Leben ist, auch wenn wir anderer Ansicht sind. Arbeely versucht es, aber er kann mich nicht so verstehen, wie du es kannst.« Er lächelte. »Also ja, ich betrachte dich als Freundin. Und ich würde unsere Spaziergänge vermissen, wenn wir damit aufhörten.«
    Sie lächelte ebenfalls, ein bisschen traurig. »Ich auch.«
    »Genug jetzt«, sagte er. »Schauen wir uns den Park an oder nicht?«
    Sie kicherte. »Geh voraus.«
    Sie gingen die Treppe zur Mall hinauf. Rings um die Promenade hatte der dichte Nebel die Welt ausgelöscht und nur den breiten, von Ulmen gesäumten Weg und einen dunstigen Horizont übrig gelassen. Chava neben ihm wirkte wie ein Teil der Landschaft. »An diesem Ort fühle ich mich komisch«, murmelte sie.
    »Inwiefern komisch?«
    »Ich weiß nicht.« Sie hob die Hände, als wollte sie in der Luft nach Worten tasten. »Als wollte ich laufen und laufen und nie mehr stehenbleiben.«
    Er lächelte. »Ist das so komisch?«
    »Für mich schon. Ich bin noch nie gerannt.«
    »Nie?«
    »Nie.«
    »Dann solltest du es versuchen.«
    Sie blieb stehen, als würde sie darüber nachdenken – und dann war sie nicht mehr an seiner Seite. Ihre Beine streckten sich hinter ihr, ihr Umhang bauschte sich wie Flügel; und einen langen Augenblick war ihr Körper eine dunkle Form, die mit unglaublicher Geschwindigkeit von ihm fortflog.
    Er stand wie vor den Kopf gestoßen da und sah ihr nach; dann grinste er und rannte ihr hinterher, seine Schuhe schlugen auf dem Boden auf, die Bäume neben ihm verschwammen. Kam er ihr näher? Er wusste es nicht, sie war verschwunden; sie war ihm einfach davongelaufen!
    Eine Baumgruppe tauchte aus dem Nebel auf, das Ende der Mall. Er wurde langsamer, blieb stehen und sah sich um. Wo war sie? »Chava!«
    »Komm her und schau!«
    Sie stand mitten zwischen den Bäumen und neigte sich tief über etwas. Er stieg über den niedrigen Zaun und versank bis zu den Knöcheln im Matsch. Schaudernd ging er zu ihr. »Schau«, sagte sie.
    Ein dicker Trieb hatte sich durch die nasse Erde geschoben. An der Spitze befand sich ein Knoten fest gefalteter Blütenblätter. Er sah sich um und entdeckte verstreut weitere kleine Triebe: die ersten Frühlingsblumen. »Du hast sie vom Weg aus gesehen?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Ich wusste, dass sie da sind. Die Erde erwacht.« Er sah zu, wie sie ihre Hand in den Matsch drückte. Ihre Hand verschwand und anschließend ihr Handgelenk. Er erschrak und glaubte einen Moment lang, dass sie ganz und gar versinken würde; er wollte sie wegziehen, sie am Untergehen hindern. Doch dann zog sie die Hand zurück, blickte auf ihre verschmutzten Kleider und Schuhe, ihren schlammbefleckten Umhang. »Oh, schau nur, was ich angerichtet habe«, murmelte sie. Sie richtete sich auf, wieder ganz ihr forsches und geschäftsmäßiges Selbst. »Wie viel Uhr ist es?«
    Gemeinsam kehrten sie auf festen Boden zurück. Seine Schuhe waren ruiniert; er zog sie aus und schlug sie gegen den nächsten Baum. Neben ihm versuchte Chava, die Erde von ihrem Umhang zu wischen. Sie sahen sich kurz an, lächelten rasch und blickten weg, wie Kinder, die bei etwas Verbotenem ertappt worden waren.
    Auf der Droschkenstraße gingen sie zurück nach Süden bis zum Tor, und dann waren sie wieder in der Welt aus Stein und Beton. Je weiter sie sich vom Park entfernten, umso mehr schien Chava ihre seltsame Energie zu verlieren. Sie runzelte die Stirn über ihre schmutzigen Schuhe und meinte, dass sie ihren Umhang waschen müsse. Als sie den Broadway erreichten, schien es vollkommen unvorstellbar, dass sie aus schierem Vergnügen loslaufen könnte. Er dagegen war noch in einer unwirklichen Benommenheit gefangen. Die vertrauten Straßen schienen voll neuer Details: die Schnörkel an den Lampenmasten, die gemeißelten Ornamente über den Hauseingängen. Er fühlte sich, als würde etwas in ihm aufbrechen oder auseinanderfallen.
    Im Nullkommanichts waren sie in

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