Golem und Dschinn: Roman (German Edition)
geschaut und sich gefürchtet. Doch im nächsten Augenblick waren da nur noch die Kunden mit ihren Wünschen nach Roggenbrot und Rugelach. Dennoch stand sie da und horchte mit all ihren Sinnen, bis ihr Mrs. Radzin einen komischen Blick zuwarf. »Chava? Alles in Ordnung?«
»Ja, alles in Ordnung. Ich dachte, ich hätte jemanden meinen Namen rufen hören.« Sie lächelte rasch und beugte sich dann wieder nachdenklich über ihre Arbeit. Hin und wieder kam jemand von der Straße herein, der unruhig war, weil er getrunken hatte oder krank war oder Pech gehabt hatte; vielleicht war es so jemand gewesen, jemand, der aus dem falschen Grund auf die richtige Antwort gestoßen war. Oder sie hatte zu schnell gearbeitet und war aufgefallen. Wie dem auch sei, tun konnte sie nichts, nicht mit dieser Schlange, die bis vor die Tür reichte, und sechs Blechen mit Plätzchen im Ofen. Sie horchte den ganzen Tag, aber da war nichts; und andere beharrlichere Sorgen drängten sich ihr auf und ließen sie ihre vergessen.
Annas Lage wurde schlimmer. Das Mädchen lief jetzt mindestens zweimal täglich auf die Toilette, um sich zu übergeben, und den Radzins war das unvermeidlicherweise aufgefallen. Jedes Mal, wenn Anna sich eilig zurückzog, spitzte Mrs. Radzin angewidert den Mund, und Mr. Radzin schaute sauertöpfisch. Allen war klar, was Sache war, und dennoch sagte verrückterweise keiner ein Wort. In ihrem Innern sagten sie dafür umso mehr; und Mitte der Woche glaubte der Golem, von dem Krach taub zu werden.
Nachts, während sie nähte, dachte sie über die aufgeschnappten Einzelheiten von Annas Lage nach. Das Mädchen war schon mindestens im zweiten Monat. Ihr junger Mann wusste immer noch nichts davon. Sie hatte es zwei Freundinnen erzählt und sie auf Stillschweigen eingeschworen, doch niemand wusste, wie lange sie sich daran halten würden. Natürlich hätte sie es wegmachen lassen können, aber sie konnte es sich nicht leisten, nach Uptown zu gehen, und die Möglichkeiten in der Bowery jagten ihr mehr Angst ein, als es Irving zu sagen. Sie nahm ihn gern auf die Schippe und zankte mit ihm herum, noch lieber mochte sie es, wenn sie sich nach einem Streit wieder versöhnten, aber wer war er zuinnerst? Wer wäre er, wenn sie es ihm gesagt hätte?
Der Golem wandte alles hin und her und versuchte zu entscheiden, was Anna tun sollte; doch ihr fiel kein Rat ein, den sie ihr hätte geben können. Der Rabbi hätte gesagt, dass sie unüberlegt gehandelt und eine schlechte Wahl getroffen hatte, und das stimmte zweifellos. Doch verglichen mit Annas wirkte ihr eigenes Leben wie ein blasser Schatten, das nicht einmal die Möglichkeit bot, Annas Fehler zu machen. Sie war kein Mensch. Sie würde nie Kinder haben. Vielleicht würde sie auch nie lieben können. Wie konnte sie behaupten, dass sie nicht genau wie Anna gehandelt hätte, wenn sie geboren und nicht erschaffen worden wäre?
Als der Morgen dämmerte, saß sie noch immer über diese Gedanken geneigt da und stach die Nadel gereizt in eine Hose. Seit ihrem draufgängerischen Lauf im Central Park war noch keine Woche vergangen, und in ihrer Erinnerung kam ihr ihre unbeschwerte Freude wie die einer anderen Person vor. Andererseits war es wirklich eine merkwürdige Nacht gewesen. Sie dachte an das hartnäckige Ziehen der Erde und wie sich ihre Sinne in alle Richtungen gestreckt und den ganzen Park aufgenommen hatten. Und Ahmad: Er hatte so seltsam verloren gewirkt in der Gasse, so ganz anders als sein übliches zuversichtliches Selbst, und sie hatte keine Ahnung warum. Sie hatte seine Hand ergriffen, um sich zu vergewissern, dass er noch da war.
Sie verknüpfte den Faden und schnitt ihn nahe am Knopf ab. Fertig. Hose geflickt. Sie wünschte nur, dass diese Männer aufhören würden, sie zu zerreißen.
Sie warf ihren Umhang um und ging in die Bäckerei, wappnete sich für einen weiteren Tag voller Ängste und Schweigen. Und dann kam Anna durch die Hintertür und riss ihr den Boden unter den Füßen weg.
»Chava!« Sie fasste nach den mehlbestäubten Händen des Golems, jeder Zentimeter von ihr strahlte Glück aus. »Gratulier mir, ich werde heiraten!«
»Was?«
»Irving hat mir gestern Abend einen Antrag gemacht! Er hat mich gefragt, und ich habe
ja
gesagt!«
»Oh, meine Liebe!«, rief Mrs. Radzin. Sie stürzte sich auf das Mädchen und verzieh ihr allen Ärger. »Wie wunderbar! Komm her und erzähl mir alles.«
»Wir sind einfach schrecklich ineinander verliebt, deswegen heiraten
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