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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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wir, sobald wir können –«
    Mr. Radzin begann zu hüsteln.
    »– und dann, ihr werdet es nie erraten, ziehen wir nach Boston!«
    Mrs. Radzin schnappte, wie von ihr erwartet, nach Luft, und Anna erzählte von Irvings Freund, der aus New York weggegangen war, um in der Textilfabrik seines Onkels zu arbeiten. »Und jetzt gibt es dort eine Stelle für Irving, wenn er sie will. Er wird stellvertretender Abteilungsleiter und hat Männer unter sich und alles, was dazu gehört. Stellt euch vor, ich werde die Frau eines Chefs!«
    Die beiden Frauen plauderten fröhlich weiter, während der Golem ganz benommen daneben stand. Eine Hochzeit? Boston? War das möglich? Sie hatte Annas Dilemma als entsetzliche Entscheidung zwischen höchst unangenehmen Alternativen gesehen. Und während sie jetzt zuhörte, wie die Frauen die Vorteile eines Hochzeitskleids aus Spitze gegen die Vorzüge von besticktem Satin abwägten, wurde ihr klar, dass sie kein einziges Mal ein glückliches Ende in Betracht gezogen hatte.
    Doch bald mahnte Mr. Radzin, dass sie mit der Arbeit im Hintertreffen waren und Annas Mitgift in ihrer Freizeit planen sollten. Alle machten sich an die Arbeit, und in der Bäckerei kehrte wieder so etwas wie Normalität ein. Nur der kleine Abie warf Anna gelegentlich einen Blick zu, als erwartete er, dass sie sich in eine Märchenprinzessin verwandelte. Gegen Feierabend, als Anna ihren Mantel anzog, fiel dem Golem ein, dass sie sie noch nicht wirklich beglückwünscht hatte. Sie ging zu Anna hinüber und schlang die Arme um sie; erschrocken keuchte das Mädchen: »Chava, du erdrückst mich ja!«
    Sie ließ sie sofort los; Annas Gesicht war rot, doch sie lächelte, es war nichts passiert. »Entschuldige, das wollte ich nicht, ich wollte dir nur Glück wünschen. Aber ich werde dich schrecklich vermissen. Ist Boston sehr weit weg? Kann man mit der Straßenbahn hinfahren? Oh, nein, wahrscheinlich nicht.«
    Jetzt lachte Anna. »Chava, du dumme Nuss. Du bist mir ein Rätsel, wirklich.«
    Der Golem ließ seinen Sorgen der vergangenen Woche freien Lauf, die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus. »Ich freue mich so für dich! Wie hat er reagiert, als du ihm gesagt hast, dass du –« Sie hielt inne und schlug sich die Hand vor den Mund. Die Radzins standen Gott sei Dank schon auf der Straße draußen und wollten zusperren.
    Anna kicherte nervös. »Pssst, um Himmels willen. Ich weiß, ich habe es nur schlecht verheimlicht, aber jetzt ist alles gut. Er war natürlich überrascht, wer wäre das nicht, aber dann war er so lieb und ernst, dass es mir fast das Herz gebrochen hat. Er hat von Boston erzählt, und dass es ein Zeichen wäre, dass er erwachsen werden und heiraten sollte. Und dann ist er auf die Knie gegangen und hat mir einen Antrag gemacht! Ich musste natürlich weinen und konnte nicht einmal richtig ja sagen.«
    »Wollt ihr beiden über Nacht bleiben?«, rief Mr. Radzin von der Straße. »Wenn nicht, dann würden wir jetzt gern nach Hause gehen.«
    Anna verdrehte die Augen, und sie gingen hinaus und verabschiedeten sich von den Radzins. »Was für ein schöner Abend«, sagte Anna zum Golem und ignorierte den Abfallgeruch in den Straßen, die feuchte kalte Brise. Der Golem lächelte. Heute Nacht könnte sie sich beim Nähen entspannen, hätte vielleicht sogar ein bisschen Freude daran. Und morgen würde sie Ahmad erzählen, dass sich die Situation in der Bäckerei gebessert hätte. Vielleicht würden sie dann ausnahmsweise nicht streiten.
    Anna fragte: »Woran denkst du?«
    »An nichts«, sagte der Golem. »An einen Freund. Warum?«
    »Weil ich dich noch nie so habe lächeln sehen. Ach, werd nicht verlegen, Chava! Du kannst dich nicht für immer aus der Welt zurückziehen, sogar Witwen müssen ein bisschen was vom Leben haben. Bei allem gebührenden Respekt für deinen verstorbenen Mann natürlich – aber hätte er gewollt, dass du für den Rest deines Lebens allein im Bett liegst?«
    Sie dachte darüber nach, was Rotfeld zu der Angelegenheit gesagt hätte. Wahrscheinlich hätte er genau das gewollt. »Vermutlich nicht«, murmelte sie, unsicher angesichts der Lüge.
    »Dann geh wenigstens einmal aus und hab ein bisschen Spaß.«
    Sie hatte das Gefühl, dass ihr die Kontrolle über das Gespräch entglitt. Sie lachte ein bisschen panisch. »Anna, ich wüsste nicht einmal wie.«
    »Ich helfe dir«, sagte das Mädchen mit der alles umfassenden Großzügigkeit einer glücklichen Person. »Wir fangen morgen Abend damit

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