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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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Pakete in den Armen, Kinder zerrten an ihren Röcken. Sie sprachen dieselbe Sprache wie Rotfeld, die Sprache, die sie beim Erwachen gekannt hatte. Nach dem Tumult der Sprachen tröstete es sie ein wenig, sie wieder zu hören.
    Sie ging langsamer und schaute sich um. Neben ihr lockte sie die Treppe eines Wohnhauses; sie hatte den ganzen Tag Männer und Frauen, Jung und Alt auf diesen Treppen sitzen sehen. Durch ihr Kleid fühlte sich der Stein warm an. Sie blickte den Leuten, die vorbeikamen, ins Gesicht. Die meisten waren müde und zerstreut, hingen ihren Gedanken nach. Männer kehrten mit erschöpften Mienen und hungrigen Bäuchen von der Arbeit nach Hause zurück. In ihren Köpfen sah sie das Essen, das sie sich schmecken lassen würden, die dicken dunklen Brotscheiben mit Schmalz, die Heringe und Essiggurken, die Krüge mit dünnem Bier. Sie sah ihre Hoffnung auf eine kühlende Brise, eine durchschlafene Nacht.
    Einsamkeit überkam sie wie tiefe Erschöpfung. Sie konnte nicht ewig auf der Treppe sitzen bleiben, sie musste weiter; aber im Moment war es einfacher zu bleiben, wo sie war. Sie lehnte den Kopf an die Balustrade. Zwei kleine braune Vögel pickten im Schmutz am Fuß der Treppe, ohne auf die vorbeistapfenden Passanten zu achten. Ein Vogel flog die Treppe hinauf und landete neben ihr. Er rieb den spitzen Schnabel am Mauerwerk, blickte zur Seite und hüpfte auf ihren Oberschenkel.
    Sie war überrascht, hielt jedoch vollkommen still, als der Vogel auf ihren Schoß hüpfte und an den Überresten des Schlicks aus dem Fluss pickte, der noch an ihrem Kleid hing. Dürre harte Füße kratzten sie durch den Stoff. Langsam, ganz langsam streckte sie eine Hand aus. Der Vogel hüpfte darauf und blieb stehen. Mit der anderen Hand strich sie ihm über den Rücken. Er saß geduldig da, und sie spürte die weichen glatten Federn und den winzigen flatternden Herzschlag und lächelte fasziniert. Er legte den Kopf schief und sah sie aus einem runden Auge unverwandt an, pickte dann plötzlich in ihren Finger, als wäre sie nur ein gewöhnlicher Klumpen Erde. Einen Augenblick lang schauten sie sich an, dann flog er fort.
    Erschrocken blickte sie auf und verfolgte seine Flugbahn – und sah einen älteren Mann im Schatten eines Lebensmittelwagens stehen und sie beobachten. Wie sie trug der Mann trotz der Hitze eine schwarze Wolljacke. Unter dem Saum lugten weiße Fransen hervor. Er hatte einen weißen, gepflegten Bart, und sein Gesicht unter der Hutkrempe war von einem Netz tiefer Falten durchzogen. Er betrachtete sie still, aber der Gedanke, den sie aufschnappte, war bang:
Kann sie sein, was ich glaube, dass sie ist?
    Eilig stand sie auf und ging davon, ohne zurückzublicken. Vor ihr strömte eine Schar Männer und Frauen aus der Hochbahn der 2 nd Avenue Line. Sie versuchte, sich unter sie zu mischen, folgte der Menge, aus der sich kleine Gruppen an Ecken und Eingängen lösten und abschwenkten. Schließlich bog sie in eine schmale Seitenstraße und wagte es, sich umzuschauen. Der Mann in der schwarzen Jacke war nirgendwo zu sehen.
    Erleichtert verließ sie die Straße wieder und ging weiter nach Osten. Jetzt roch es wieder nach Meer, nach Salz und Kohlenrauch und Motorenöl. Die meisten Geschäfte waren geschlossen, und die Händler mit den Handwagen packten die Hosenträger und billigen Hosen ein, die Töpfe und Pfannen. Was würde sie tun, wenn es dunkel würde? Ein Versteck suchen und auf den nächsten Morgen warten.
    Plötzlich spürte sie den großen Hunger, der jemand anderen plagte. Ein dürrer, verdreckter Junge trieb sich auf dem Gehweg vor ihr herum und lugte zu einem nahen Händler, der über seinem Wagen schwitzte. Ein Mann in Hemdsärmeln trat zu dem Händler und gab ihm eine Münze. Der Händler nahm ein Blatt Wachspapier, steckte die Hand in den Wagen und brachte eine faustgroße Teigkugel zum Vorschein. Der Mann biss hinein und blies Dampf aus dem Mund, während er sich dem Golem näherte. Der Hunger des Jungen wurde größer, verzweifelter, überwältigender.
    Wäre der Junge nicht am Verhungern gewesen, wäre der Mann nicht so nah an ihr vorbeigegangen – hätten sie vor allem die Erfahrungen dieses Tages nicht so erschöpft –, hätte sie sich vielleicht beherrscht und wäre weitergegangen. Aber so viel Glück hatte sie nicht. Die Bauchschmerzen des Jungen hatten sie im Griff. Brauchte er nicht dringender etwas zu essen als der Mann?
    Kaum hatte sie das gedacht, streckte sie die Hand aus, nahm dem Mann

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