Golem und Dschinn: Roman (German Edition)
hinweg an, auf dem wie immer genug Essen für eine ganze Woche stand. Sie knabberte an einer Dattel und trank klares kaltes Wasser. Er lächelte und betrachtete sie. Sie hatten sich seit – Tagen? Wochen? – nicht mehr gesehen. Sie wusste es nicht. In letzter Zeit hatte sie Mühe, die Zeit nicht aus den Augen zu verlieren. Eines Morgens wollte sie die Ziegen melken, doch ihre Euter waren leer. Sie lief zu ihrer Mutter, die meinte, dass sie verrückt geworden sein musste, denn sie hatte die Ziegen Stunden zuvor schon gemolken. Auch andere seltsame Dinge passierten. In ihren Augenwinkeln bewegten sich Schatten, sogar am helllichten Tag. Wenn sie nicht hinsah, veränderten sich Gesichter; sie wurden lang oder dunkel. Eines Nachmittags ging sie zur Quelle, um das letzte Wasser zu holen, und die in den Felsen gemeißelte Göttin erzählte ihr Geschichten über die lächerlichen Männer, die versucht hatten, die Wüste zu erobern. Wie Schwestern lachten sie zusammen, bis jemand ihren Namen rief: einer ihrer Onkel. Ihre Mutter, die sich Sorgen machte, weil das Mädchen schon so lange fort war, hatte ihn losgeschickt, sie zu suchen. Fadwa wandte sich der Göttin zu, um sich zu verabschieden, aber die Göttin war verstummt. Später hörte Fadwa, wie der Onkel ihrer Mutter zuflüsterte, dass sie in dem seichten Wasser gesessen und vor sich hin gekichert habe.
Sag ihrem Vater nichts davon
, hatte ihre Mutter gesagt.
Kein Wort.
Aber das alles war jetzt selbstverständlich unwichtig. Sie war beim Dschinn, wohlbehalten in seinen Mauern aus Glas, und badete im Sternenlicht. Ihre Augen waren klar, die Schatten zu ihren Füßen regten sich nicht. Hier konnte ihr nichts passieren.
»Einen Gefährten«, sagte sie. »Du meinst einen Ehemann.« Sie seufzte und wünschte, sie würden über etwas anderes sprechen, aber es wäre natürlich unhöflich, das Thema zu wechseln. »Mein Vater wird einen Ehemann für mich auswählen, bald. Mehrere Männer in unserem Stamm sind auf der Suche nach einer Frau, und mein Vater wird sich für einen von ihnen entscheiden.«
»Wie wird er ihn auswählen?«
»Er wird den nehmen, der am meisten zu bieten hat. Nicht nur was den Brautpreis betrifft, sondern auch die Größe seines Clans, ihre Weiden, ihre Stellung innerhalb des Stammes. Und natürlich wird er sich danach richten, ob andere ihn für einen guten Mann halten.«
»Und ob du dich von ihm angezogen fühlst, Verlangen nach ihm verspürst – spielt das keine Rolle bei seiner Entscheidung?«
Sie lachte. »Frauen in Geschichten können sich diesen Luxus vielleicht leisten. Außerdem sagen meine Tanten, dass das Verlangen später kommt.«
»Und doch hast du Angst.«
Sie errötete. War das so offensichtlich? »Ja, natürlich«, sagte sie und versuchte, erwachsen und unbeschwert zu klingen. »Ich werde meine Familie und mein Zuhause verlassen und im Zelt eines Fremden leben, als Dienerin seiner Mutter. Ich weiß, dass mein Vater mich verwöhnt, und ich bin nicht so undankbar, um zu glauben, dass er mich mit einem schrecklichen Mann verheiraten wird. Und doch habe ich Angst. Wer hätte keine?«
»Warum heiratest du dann überhaupt?«
Wieder einmal überraschte sie seine Unwissenheit. »Nur kranke und schwächliche Mädchen heiraten nicht. Ein Mädchen muss heiraten, wenn sie kann, oder sie wird zu einer Belastung. Unser Clan ist zu klein, um eine unverheiratete Tochter durchzufüttern, nicht wenn er kleine Kinder ernähren und für meinen Bruder und meine Cousins Frauen finden muss. Nein, ich muss heiraten, und zwar bald.«
Jetzt sah er sie voller Mitleid an. »Das ist ein hartes Leben, und du hast keine große Wahl.«
Stolz wallte in ihr auf. »Aber es ist auch ein gutes Leben. Es gibt immer etwas zu feiern, eine Hochzeit, eine Geburt oder das Kalben im Frühling. Ich kenne kein anderes Leben. Außerdem«, sagte sie ein wenig spöttisch, »können wir nicht
alle
in einem Glaspalast leben.«
Er zog lächelnd eine Augenbraue hoch. »Würdest du das denn gern, wenn du könntest?«
Spielte er mit ihr? Seine Miene lieferte keinen Hinweis. Sie lächelte ebenfalls. »Dein Zuhause ist wunderschön. Aber ich wüsste nicht, was ich hier tun sollte.«
»Vielleicht müsstest du gar nichts tun.«
Sie lachte, und es war ein volltönendes Lachen, das Lachen einer Frau. »Ich glaube, das würde mir mehr Angst machen als jeder Ehemann.«
Auch der Dschinn lachte und senkte den Kopf, ein Eingeständnis seiner Niederlage. »Ich hoffe, dass du mir
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