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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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sie schüttelte den Kopf, offenbar so verwirrt wie er.
    Der Kapellmeister verneigte sich lächelnd. Riesiger Jubel brach aus. Noch mehr Paare eilten auf die Tanzfläche, die jetzt fast überquoll. Der Kapellmeister wischte sich mit einem Taschentuch über die Stirn und griff erneut zum Taktstock – und diesmal war die Musik schneller, ungestümer, die Melodie rasant. Jeder Mann auf der Tanzfläche fasste seine Partnerin fester um die Taille und zog sie an sich, viel enger als zuvor, und wirbelte sie dann in kleinen Kreisen herum, verlagerte rasch das Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Die Frauen lachten lauthals. Die Leute an den Tischen klatschten vor Vergnügen.
    Die Musik ergriff Besitz vom Dschinn. Was immer er hatte sagen wollen, war in einer umfassenden Sehnsucht aufgegangen. Er schloss die Augen, plötzlich vollkommen erschöpft und zugleich voll hektischer Energie.
    »So geht vermutlich ein Spiel«, sagte Chava dicht an seinem Ohr. »Den Tanz habe ich nicht gelernt.«
    »Aber ich weiß, wie er geht.« Er zog sie an sich.
    Sie war überrascht. »Ahmad –«
    »Halt dich fest«, sagte er und begann zu tanzen.
    Wieder und wieder drehte er sie im Kreis, eine Hand auf ihrem Rücken, die andere mit der ihren verschränkt. Er hatte keine Mühe mit geschlossenen Augen das Gleichgewicht zu halten. Zuerst hatte er Angst, dass sie sich ihm entziehen würde; doch dann entspannte sie sich in seinen Armen, eine Geste des Vertrauens, die ihn mit Freude erfüllte. »Schließ die Augen«, sagte er.
    »Aber wir werden stürzen!«
    »Werden wir nicht.«
    Und sie stürzten tatsächlich nicht, noch stießen sie mit ihren Nachbarn zusammen. Andere bemerkten sie, dieses große auffällige Paar, das sich in seiner eigenen Welt drehte. Die Leute machten ihnen Platz und schauten zu. Schneller und schneller tanzten sie – mit geschlossenen Augen! Wie war das möglich? Chavas Schritte waren jetzt klein, präzise an seine Bewegungen angepasst, und beschrieben einen Kreis mit ihm als Mittelpunkt. Und während dieser rasanten Bewegungen erfüllte ihn für einen langen und glücklichen Moment eine große Stille, und er vergaß alles andere –
    Jemand berührte ihn an der Schulter.
    Er öffnete die Augen und wäre beinahe mit dem Mädchen namens Phyllis zusammengestoßen. Chava stolperte, er fing sie auf und hielt sie fest. Phyllis wich zurück, bis sie sicher war, dass sie nicht mit ihr kollidieren würden, dann sagte sie mit einem bedauernden Blick zum Dschinn auf Jiddisch: »Chava, es tut mir leid, aber es ist wegen Anna. Sie hat Irving mit einem anderen Mädchen erwischt, und jetzt streiten sie. Er ist betrunken und sagt schreckliche Dinge. Ich habe Angst, dass etwas passieren wird. Vielleicht könnte Ahmad einschreiten? Ich würde dich nicht darum bitten, wenn Jerry und Stanley nicht schon gegangen wären.«
    Der Dschinn hörte zu und gab vor, nicht zu verstehen. Eine ärgerliche Wendung der Dinge, aber er würde es tun, wenn auch nur, um den Abend zu retten. Der Golem allerdings war erstarrt. »Er streitet mit Anna?«, sagte sie – und ihr Tonfall ließ Phyllis beunruhigt zurückweichen. »Wo sind sie?«
    »Draußen.«
    Sie packte seine Hand und riss ihn fast von den Füßen, als sie wie ein Pfeil durch die Menge schoss. »Chava, warte«, sagte er, aber sie hörte ihn nicht. Er spürte ihre Anspannung, ihre heftige Angst um ihre Freundin.
    Sie zog ihn durch den Korridor und zur Tür hinaus. In der Broome Street standen ein paar Männer und rauchten Zigaretten, doch von Anna und diesem Irving war nichts zu sehen. Dann hörte er die fernen Rufe eines Mannes und einer Frau. Chava wandte den Kopf. »In der Gasse«, sagte sie.
    Sie bogen um die Ecke, der Dschinn folgte ihr noch immer auf den Fersen. Am Ende der Gasse kämpfte ihre Freundin Anna mit einem Mann. Sie hielt sich schluchzend an ihm fest, wollte sich an ihm hochziehen. Der Mann sagte etwas und schlug sie ins Gesicht, dann riss er ihre Hände von seinem Jackett und stieß sie zu Boden. Ihr Kopf prallte aufs Pflaster, und sie schrie auf.
    »Anna!«, rief Chava.
    Der Mann wankte, er war zweifelsfrei betrunken. Er blickte zu ihnen, als sie sich ihm näherten. »Wer zum Teufel seid ihr denn?«
    »Lass sie in Ruhe!« Sie rannte auf ihn zu. Der Dschinn bemühte sich, Schritt zu halten. Er wollte Chava festhalten, aber sie befand sich knapp außerhalb seiner Reichweite.
    Irving machte einen Schritt nach vorn, sodass Anna hinter ihm auf dem Boden lag. Er fixierte den Dschinn

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