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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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Dieb davonlief, dachte jedoch nicht im Traum daran, ihm zu folgen. Seine Brieftasche steckte in der Tasche auf der anderen Seite, doch selbst wenn er bestohlen worden wäre, hätte er nichts unternommen. Dieser Ort war ein Abbild der Hölle, des Scheol, der Tiefen von Abbadon. Lediglich ein Vorgeschmack dessen, was noch kommen würde.
    Die Menschenmenge trieb ihn weiter und spülte ihn vor die Tür einer Kneipe. Er trat ein und setzte sich an einen Tisch. Ein Mann mit schmutziger Schürze stellte ein Getränk vor ihn hin, ein wässriges Bier, das schal und nach Terpentin schmeckte. Er trank es, bestellte noch eins und dann einen Whiskey. Eine junge Frau mit einer gelben Lockenperücke, die nur rudimentär bekleidet war, setzte sich neben ihn. Sie stellte ihm eine kokette Frage auf Englisch und legte ihm die Hand auf den Oberschenkel. Er schüttelte den Kopf, dann vergrub er das Gesicht in ihrem Nacken und schluchzte.
    Schließlich führte sie ihn die Hintertreppe hinauf in ein schmuddliges Zimmer, wo er sich auf eine alte Matratze legte und sie ihm die Hose auszog. Er sah unbeteiligt zu, als sie seine Brieftasche fand, die Stirn runzelte und alle Scheine bis auf einen herausnahm. Dann setzte sie sich auf ihn. Eine Pantomime begann, eine Groteske des Liebesakts; doch er reagierte nicht, und sie gab den Versuch bald auf. Schulterzuckend griff sie hinter die Matratze und holte ein angeschlagenes, schwarz lackiertes Tablett hervor. Darauf lagen eine schmale Pfeife, eine kleine Öllampe, eine Eisennadel und viele kleine Klumpen, die wie Teer aussahen. Das Mädchen entzündete die Lampe, spießte einen Klumpen auf die Nadel und hielt ihn über die Flamme. Als er anfing zu qualmen, ließ sie ihn in die Pfeife fallen, zog daran und inhalierte tief. Ihre Augen schlossen sich flatternd, sie blickte zufrieden drein, dann öffnete sie die Augen wieder und sah, dass Schaalman sie beobachtete. Grinsend wiederholte sie die gesamte Prozedur und hielt ihm die Pfeife hin.
    Der Rauch war scharf und beißend, und ihm wurde schwindlig davon. Eine Weile glaubte er, sich übergeben zu müssen. Dann entspannte sich sein Körper, und allmählich breitete sich eine köstliche Mattigkeit in ihm aus. Nach ein paar Minuten überlagerte ein alles überwältigendes Gefühl der Ruhe und des Wohlbehagens seine Verzweiflung. Ihm fielen die Augen zu, er begann zu lächeln.
    Das Mädchen beobachtete ihn kichernd, und dann schloss auch sie wieder die Augen. Bald war sie eingeschlafen. Als er sie ansah, bemerkte er, dass sie nicht mehr so jung war, wie er gedacht hatte: Die Röte ihrer Wangen war aufgemalt, die Haut darunter fahl und faltig. Aber das war nicht wichtig. Er begriff jetzt, dass die materielle Welt nur eine Illusion war, hauchfein wie ein Spinnennetz. Er schaute sich mit stiller Verwunderung um. Dann zog er seine Hose an, holte sich sein Geld zurück und verließ das Zimmer.
    Er ging durch den düsteren Flur zur Feuerleiter auf der Rückseite des Hauses und wollte zur Straße hinuntersteigen, als er über sich Stimmen und Schritte hörte. Aus schierer Neugier stieg er die rostige Treppe hinauf aufs Dach. Zu seiner Überraschung war es dicht bevölkert. Ein Dutzend junger Männer rauchte Zigaretten, und in Lumpen gekleidete Mädchen flüsterten miteinander. Im Schein einer Laterne spielten Kinder ein Würfelspiel.
    Während er über das Dach hinwegblickte, verspürte er zum zweiten Mal bis in die Knochen den Sog des Zaubers. Selbst in seinem berauschten Zustand war eine Täuschung ausgeschlossen. Jeder Mann, jede Frau, jedes Kind, sogar das Dach selbst – alles erschien ihm unerträglich
interessant.
    Freude erfüllte ihn, und sie war so stark, dass er am liebsten geweint hätte. Er schlenderte über das Dach, blickte in jedes Gesicht und versuchte, seine Bedeutung zu verstehen. Ein Mann, den Schaalmans starrender Blick beunruhigte, hob drohend die Faust, doch Schaalman lächelte nur verträumt und ging weiter.
    Auf dem angrenzenden Dach befanden sich ebenfalls Männer und Frauen, die ihm aus unerfindlichem Grund faszinierend erschienen. Er stieg über den niedrigen Sims und ignorierte das protestierende Knacken seiner Knochen. Die Euphorie des Opiums verflog, aber ein neues Gefühl erfüllte ihn, das ihm ein Ziel aufzeigte. Was blieb ihm anderes übrig, als der Spur zu folgen und herauszufinden, wohin sie ihn führte.
    Bald ging er von einem Dach zum nächsten und ließ sich dabei von seinem Instinkt leiten. Er befand sich jetzt tief in

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