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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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heiße Quellwasser empfand sie als angenehm lauwarm, und wenn man sie gelassen hätte, wäre sie in den Räumen mit der trockenen heißen Luft geblieben, bis sie mumifiziert gewesen wäre. Doch kaum hatte sie die Räumlichkeiten verlassen, begann sie wieder vor Kälte zu zittern. Schließlich wollten auch die deutschen Ärzte wie ihre französischen Kollegen nicht länger die Verantwortung für sie übernehmen. Als Mrs. Winston eine Erklärung verlangte, deuteten sie an, dass der schlechte Gesundheitszustand ihrer Tochter weniger mit ihrem Körper als vielmehr mit ihrem Geist zu tun habe.
    Schlimmer noch, Sophia war geneigt, ihnen zu glauben. Während sie reglos unter den Decken im Bett lag, erinnerte sie sich an die letzten Momente vor ihrem Zusammenbruch und fragte sich, ob sie tatsächlich den Verstand verloren hatte. Und doch wusste sie zuinnerst, dass es genauso gewesen war, wie sie es empfunden hatte.
    Mrs. Winston verbat sich jede Andeutung auf eine Geisteskrankheit ihrer Tochter. Wenn sich die europäischen Ärzte weigerten, ihr zu helfen, dann würden sie Europa eben verlassen. Was Sophias Hochzeit anbelangte, so sollte weder die Planung geändert noch der Termin verschoben werden; ihre Krankheit gehörte in die Kategorie der Dinge, die am besten unerwähnt blieben, so wie der Onkel, der in einer Nervenheilanstalt gestorben war, oder der Cousin, der eine Katholikin geheiratet hatte.
    In einem nie da gewesenen Akt der Rebellion verkündete Sophia, dass sie Europa nur verlassen würde, wenn sie nicht in das zugige verhasste Haus in Rhode Island zurückkehrten, sondern nach New York, wo es zumindest heiß wäre. Ihre Mutter stritt mit ihr, nannte die Idee lächerlich, doch ein Telegramm ihres Vaters entschied die Schlacht zu Sophias Gunsten. Erst da dachte Sophia an ihren Vater, der monatelang allein in seinem Arbeitszimmer gesessen und auf Nachrichten über den Zustand seiner Tochter gewartet hatte; und ihr Herz flog ihm zu.
    Charles Townsend, ihrem Verlobten, schrieb Sophia, dass sie in Frankreich kurz krank gewesen und dann nach Baden zur Kur gereist sei. Ihm zum Amüsement beschrieb sie die ärgerlicheren teutonischen Gewohnheiten des Bäderpersonals. Charles antwortete mit den angemessenen Gefühlen, wünschte ihr eine rasche Genesung und endete mit ein paar ironischen Bemerkungen über den bevorstehenden langweiligen Sommer. Er war ein wirklich netter junger Mann, und zudem sah er gut aus. Doch in Wahrheit kannten sie sich kaum.
    Sophia blickte über den Ozean und versuchte sich zu entspannen. Sie seufzte, nippte an der abgekühlten Brühe und fragte sich kurz, was Charles denken würde, wenn er sie zittern sah. Sie wusste, dass sie sich deswegen größere Sorgen machen sollte, doch es fiel ihr schwer, Interesse dafür aufzubringen. Gelegentlich kehrten ihre Gedanken zu den Augenblicken vor ihrem Zusammenbruch zurück, und in ihr stieg ein großer vager Schmerz auf wegen etwas, von dem sie nicht einmal mit Sicherheit wusste, ob es real gewesen war. Sie kam sich vor wie eine traurige alte Frau, gewärmt von Decken. Und sie war noch nicht einmal zwanzig.
    Sie wünschte, sie könnte dem Mann, der auf ihren Balkon geklettert war, die Schuld geben, doch sie konnte es nicht, wenn sie gerecht sein wollte. Er hatte sie zu nichts gezwungen, hatte nicht einmal Druck auf sie ausgeübt. Er hatte sich ihr lediglich angeboten, und dank seines Selbstvertrauens war es ihr wie die natürlichste Sache der Welt erschienen. Eine andere Frau hätte ihn wohlmöglich aufgespürt und ihm vorgeworfen, was er getan hatte, doch bei diesem Gedanken schauderte sie. Nein, sie hatte nicht ihren Stolz, sondern nur ihre Gesundheit verloren.
    Aus dem Augenwinkel sah sie ihre Mutter aufs Deck kommen. Sie schloss die Augen und tat so, als ob sie schliefe. Nur noch ein paar Tage auf See, und sie wäre wieder zu Hause, wo sie sich in ihrem Schlafzimmer einschließen und vor dem Feuer im Kamin sitzen konnte, so lange sie wollte. Und diesmal würde sie darauf achten, dass die Tür zum Balkon geschlossen und zugesperrt war.

    In ihrem weißen Hochzeitskleid, die behandschuhten Hände im Schoß gefaltet, saß der Golem auf dem Bett und horchte, ob sie Schritte auf der Treppe hörte, ob jemand kam, der sie zu ihrem Bräutigam bringen würde.
    Sie hatte das Kleid selbst genäht. Das Oberteil mit dem hohen Kragen war mit Spitze und Stickerei verziert, die Taille mit Dutzenden winziger Abnäher geformt. Im Spiegel wirkte es fast zu elegant für

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