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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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der Bowery, weit weg von den jüdischen Vierteln. Was hatte sein Golem hier zu suchen? Oder – und jetzt empfand er die erste leise Aufregung – führte ihn die Spur überhaupt nicht zu ihr? War hier etwas anderes am Werk, bei dem sie nur eine Nebenrolle spielte?
    Schließlich stand er auf einem Dach, von dem es nicht weiter ging, außer über ein dunkles Treppenhaus. Er stieg hinunter, trat auf die Straße und schaute sich um. Ein nahes Ladenschild sprang ihn nahezu an.
Conroy’s
stand darauf. Dem Fenster nach zu urteilen handelte es sich nur um ein kleines Tabakgeschäft. Doch in jeder Ecke des Schilds befand sich ein Symbol, eine strahlende Sonne, über die sich eine Mondsichel schob. Seit Jahrhunderten waren sie die alchemistischen Zeichen für Silber und Gold. Er bezweifelte, dass sie sich zufällig dort befanden.
    Eine Glocke über der Tür schepperte blechern, als er eintrat. Der Mann hinter dem Ladentisch – vermutlich Conroy – war klein und schmal. Auf seiner Nase saß eine unauffällige Brille. Er schaute auf und musterte seinen neuen Kunden. Schaalman erkannte in seinem harten Blick und seinen kleinen Bewegungen den Argwohn eines Zuchthäuslers und wusste, dass der Mann ihn auch als solchen erkannt hatte. Sie sahen sich ein paar Sekunden schweigend an. Dann stellte Conroy eine Frage, und Schaalman schüttelte den Kopf und deutete auf seinen Mund. »Kein Englisch«, sagte er. Der Mann wartete, unsicher und misstrauisch.
    Schaalman überlegte einen Augenblick, dann sagte er: »Michael Levy?«
    Conroy runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf.
    »Avram Meyer? Chava?« Wieder Kopfschütteln. Nach einer Weile sagte Schaalman: »Golem?«
    Conroy hob die Handflächen, sichtlich ratlos.
    Seufzend bedankte sich Schaalman und ging. Er hätte gern die Gedanken des Mannes gekannt, aber Conroy war kein vertrauensseliger Rabbi, der sich mit einer Berührung des Handgelenks verzaubern ließ. Etwas war hier im Gange. Er war auf ein seltsames, verwickeltes Geheimnis gestoßen, das darauf wartete, gelüftet zu werden. Er ging durch die Bowery zurück zum Wohnheim und legte sich ins Bett, sein Herz leichter, als es seit Wochen gewesen war.

    Weit im Norden, in der vornehmsten Gegend an der Fifth Avenue, herrschte im Haus der Winstons hektische Aktivität. Seit Wochen bereitete sich der Haushalt für den Umzug nach Rhode Island vor, wo die Familie stets den Sommer in ihrem Anwesen am Meer verbrachte. Das Porzellan war eingewickelt und verpackt, die Schrankkoffer waren mit Kleidung gefüllt worden. Man wartete nur noch auf die Rückkehr von Mrs. Winston und Miss Sophia, die eine lange Reise nach Europa unternommen hatten, ein Verlobungsgeschenk von Francis Winston für seine Tochter. Doch dann traf eine höchst erstaunliche Nachricht ein. Die Winstons würden den Sommer nicht in Rhode Island verbringen. Der Haushalt bliebe in New York.
    Die Dienstboten tauschten finstere und enttäuschte Blicke aus, packten die Schrankkoffer und das Porzellan wieder aus. Für den Sinneswandel wurde kein Grund angegeben, doch Gerüchte, wonach Miss Sophia in Paris krank geworden war, verbreiteten sich bis in die Dienstbotenquartiere. Dennoch schien es merkwürdig. Wäre die Brise von Narangansett für die Genesende nicht besser als die ungesunden sommerlichen Dämpfe von Manhattan? Doch die Anweisung war erteilt worden, sie hatten sich daran zu halten. Und so nahmen sie die Tücher von den Möbeln in Sophias Zimmer, staubten alles ab und polierten die Dinge auf ihrem Frisiertisch: die Tiegel und Fläschchen, den Nippes und den kleinen goldenen Vogel in seinem Käfig.
    Unterdessen lag Sophia Winston in einem Liegestuhl auf dem Deck der RMS Oceanic, in mehrere Decken gewickelt und mit einer Tasse heißer Brühe in den Händen. Es war Morgen, und ihre Mutter schlief noch in ihrer Kabine. Sophia war früh erwacht und hatte an die Decke gestarrt, bis sie die ersten Symptome von Seekrankheit an Deck trieben. In der frischen Luft fröstelte sie zwar noch mehr als sonst, aber zumindest sah sie den Horizont. Und es war eine Erleichterung, nicht in der Nähe ihrer Mutter zu sein, die seit Monaten nicht mehr von ihrer Seite gewichen war – nicht seitdem sie Sophia bewusstlos auf dem Boden der gemieteten Wohnung an der Seine gefunden hatte, ihr Körper heiß vom Fieber, Blutflecken auf dem Rock und dem Parkettboden.
    Ihre Krankheit hatte sich Wochen zuvor angekündigt, noch bevor sie nach Europa aufgebrochen waren. Zuerst hatte sie nur hin

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