Golem und Dschinn: Roman (German Edition)
aufgegeben hatte. Oder was sie gedacht hatte, als sie neben ihm vor dem Friedensrichter gestanden und so gefasst und heiter gewirkt hatte. Er hoffte nur, dass er nicht erst in dreißig Jahren den Mut dazu aufbringen würde.
Der Golem stellte ein Glas und einen Teller mit Brot vor Michael und sah zu, wie er rasch mit großen Bissen aß. Sie lächelte ihren Mann mit ungeheuchelter Zuneigung an. Er war so ernst bei allem, was er tat.
Sie drehte sich zur Spüle, um den Abwasch zu beenden. Ihre neue Wohnung war winzig und befand sich ganz hinten in einem Flur im ersten Stock. Das matte Licht, das in dem engen Hof nach unten drang, fiel auf einen Abfallhaufen, der bis auf halbe Höhe zu ihrem Fenster reichte; manchmal sah sie eine Zigarettenkippe von oben herunterfallen. Die Küche war so groß wie ein Schrank, in den Ofen passte gerade ein Huhn. Nachts nähte sie im Wohnzimmer, das seinen Namen kaum verdiente; es war vielleicht ein Drittel so groß wie ihr altes Zimmer in der Pension. Der einzige Vorteil der Wohnung bestand darin, dass sie sich ganz hinten im Haus befand, das in eine kleine Anhöhe gebaut war, sodass die Erde sie kühlte, während der Rest des Gebäudes sich gnadenlos erhitzte. »Und im Winter wird es wärmer sein«, hatte Michael gesagt. Sie hoffte, das bedeutete, dass sie nicht so steif werden würde, so erpicht darauf, nachts spazieren zu gehen. Doch im tiefsten Innern wusste sie, dass Michaels rastlose Gedanken sie ebenso zur Verzweiflung treiben würden wie einst das Wetter.
Ein paar Tage nach der Hochzeit war ihr klar geworden, wie sehr sie die Schwierigkeiten unterschätzt hatte. Im Gegensatz zum Rabbi, dessen Gedanken so rücksichtsvoll und besonnen gewesen waren, wurde Michael ständig von Wünschen, Ängsten und Vermutungen geplagt, die überwiegend sie betrafen. Der Lärm nagte an ihr und stellte ihre Selbstbeherrschung auf die Probe. Sie servierte ihm eine zweite Portion, wenn er Hunger hatte, sprach mit ihm, wenn er reden wollte, nahm seine Hand, wenn er beschwichtigt werden musste. Sie fragte sich allmählich, ob sie noch einen eigenen Willen hatte.
Dazu kamen die zahllosen praktischen Dinge. Die langen Stunden, die sie neben ihm im Bett liegen musste und nicht vergessen durfte, ein- und auszuatmen. Die Ausreden für ihre Schlaflosigkeit und kühle Haut. Würde er merken, dass ihr Haar nicht wuchs? Oder, Gott stehe ihr bei, dass sie keinen Herzschlag hatte? Und was würde passieren, wenn sie keine Kinder bekam? Sie hatte gehofft, die ehelichen Pflichten auf ein Minimum beschränken, eine schützende Distanz zwischen sich und ihm halten zu können – vor allem hatte sie Angst, ihm aus Versehen wehzutun –, doch dann wurde sein Begehren zu groß, als dass sie es noch hätte ignorieren können, und sie sah sich veranlasst, entweder darauf zu reagieren oder aber überwältigt von seinem Verlangen neben ihm zu liegen. An einem Abend hatte sie kurz die Wärme ihrer eigenen einsetzenden Lust verspürt und versucht, sie zu steigern; doch dann war sie von Michaels ungeschicktem, schuldbewusstem Entsetzen gebremst worden. Es war nicht seine Schuld: Sie sah, wie ihn seine eigene Reaktion betrübte, und später versuchte er, die Situation zu bereinigen, doch mit solch gequälter Unsicherheit, dass sie seinem Versuch ein Ende setzte. War es die Lust selbst, fragte sie sich, die schändlich war? Oder nur das, was sie getan hatte, um sie zu steigern?
Unwillkürlich hörte sie Ahmad sagen:
Eigentlich ist es ganz einfach.
Sie
sind es, die es über alle Maßen verkomplizieren.
Nein. Sie konnte sich nicht leisten, auf die Stimme zu hören. Es war falsch, ja lächerlich, sich wegen ihrer eigenen Entscheidung über Michael zu ärgern. Sie hatte sich an ihn gebunden; sie würde zu Ende bringen, was sie begonnen hatte. Und eines Tages würde sie ihm vielleicht die Wahrheit sagen.
Endlich waren die Ketten für Sam Hosseini fertig. Arbeely brachte sie persönlich zu Sam, da er Ahmad nicht zutraute, einen guten Preis herauszuschlagen. Doch er hätte sich die Sorgen sparen können: Sam war so begeistert, dass er das Feilschen praktisch vergaß. Abgesehen von der ersten Kette mit den kleinen Scheiben aus blaugrünem Glas hatte Ahmad noch Ketten aus granatfarbenen Tropfen, brillantweißem Kristall und smaragdgrünen Rauten gemacht. Er hatte die Kettenglieder abgeflacht und das Metall leicht mattiert, sodass die Ketten von zeitloser Schönheit waren. Sam hatte so etwas noch nie gesehen.
Arbeely hatte
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