Golem und Dschinn: Roman (German Edition)
immer der Junge ging und die Tür ins Schloss fiel, verschloss sich auch in ihm etwas, das er sich bisher kaum eingestanden hatte. Arbeely drehte die Lampe höher, und sie arbeiteten schweigend weiter, bis Arbeely Hunger oder Müdigkeit nachgab, seufzte und Sand auf das Feuer schaufelte. Daraufhin legte der Dschinn das Werkzeug aus der Hand und verließ die Schmiede so wortlos wie Matthew.
Sein Leben verlief nicht anders als zuvor. Den Tag verbrachte er in der Werkstatt, nachts wanderte er durch die Stadt. Doch jetzt kamen ihm die Stunden endlos vor, erfüllt von einer betäubenden Monotonie. Nachts schritt er schnell aus, als wäre er getrieben, und nahm seine Umgebung kaum wahr. Er versuchte es mit seinen alten Lieblingsorten – Madison Park und Washington Square, City Hall und das Battery Park Aquarium –, aber diese Orte waren jetzt besetzt und mit Erinnerungen an bestimmte Abende und Gespräche mit Chava verbunden, mit ausgesprochenen und unausgesprochenen Dingen. Er konnte sich dem Central Park kaum auf Sichtweite nähern, ohne dass ihn leiser Zorn die Richtung ändern ließ.
Stattdessen ging er ziellos weiter nach Norden in unerforschtes Gebiet. Er marschierte den Riverside Drive entlang bis zur Südgrenze von Harlem, dann über das Gelände der neuen Universität, an der mit Säulen versehenen Bibliothek mit ihrer riesigen Kuppel aus Granit vorbei. Er lief die Amsterdam Avenue entlang, kreuzte Straßen, deren Nummern weit über hundert lagen. Allmählich machten die gepflegten Stadthäuser holländischen Holzhäusern Platz, die Spaliere davor dicht mit duftenden Rosen bewachsen.
Eines Nachts entdeckte er den Harlem River Speedway und ging ihn von Anfang bis Ende, der glitzernde Fluss zu seiner Rechten. Es war weit nach Mitternacht, doch ein paar draufgängerische Mitglieder der guten Gesellschaft waren noch mit ihren Sulkys unterwegs und jagten einander über die Strecke. Die Pferde zerrten an der Kandare und wirbelten Staub auf. Gegen Tagesanbruch stand er vor dem Rummelplatz von Fort George, das zugesperrte Gelände unheimlich und still. Die hölzernen Fahrgeschäfte wirkten wie Skelette, wie Überreste riesiger zurückgelassener Tiere. Die Endhaltestelle der Straßenbahn, die die Third Avenue entlangfuhr, befand sich gegenüber dem Eingang, und er sah zu, wie die Fahrgäste aus der ersten Bahn des Tages ausstiegen: Marktschreier und Karussellbetreiber, gähnende Biergartenkellnerinnen in verblichenen Röcken, ein Leierkastenmann, an dessen Hals sein Äffchen schlief. Niemand schien sich zu freuen, hier zu sein. Er stieg in die Straßenbahn und fuhr nach Süden, sah zu, wie sich der Wagen füllte und wieder leerte, Arbeiter bei den Fabriken und Druckereien ablieferte, bei Nähereien und im Hafen. Je öfter er mit der Straßenbahn und mit dem Zug fuhr, umso mehr erschienen sie ihm wie ein riesiger, böser Blasebalg, der wehrlose Passagiere von Bahnsteigen und Straßenecken einsaugte und sie woanders wieder ausspuckte.
Zurück in der Washington Street schlurfte er zu Arbeelys Werkstatt und fühlte sich, als wäre er in einem einzigen Tag gefangen, der wie geschmolzenes Glas immer länger wurde. Es gab nichts, worauf er sich freuen konnte außer Matthew. Ihm gefiel die großäugige Aufmerksamkeit des Jungen, ihm gefiel es, ihm Aufgaben zu übertragen und zuzusehen, wie er sie mit stiller Konzentration ausführte. Er nahm an, dass Matthew mit zunehmendem Alter das Interesse verlieren und sich zu den wilden jungen Männern gesellen würde, die auf den Treppen des Viertels herumlümmelten. Oder – schlimmer noch – er würde auch zu jemandem, der mit stumpfem Blick und widerspruchslos mit der Straßenbahn fuhr.
Er setzte sich grußlos auf seine Bank. In seinem Rücken werkelte Arbeely und summte dabei auf irritierende Weise vor sich hin. Der Mann arbeitete an einer großen Bestellung Reibeisen und hatte die ganze Woche damit verbracht, diamantförmige Löcher in Bleche zu stanzen. Allein beim Zuschauen wäre der Dschinn beinahe wahnsinnig geworden. Doch Arbeely schien nichts gegen die immergleiche Arbeit zu haben, und er begann ihn allmählich dafür zu hassen.
Du urteilst viel zu hart über ihn
, sagte Chava in seinem Kopf.
Er verzog das Gesicht. Sie würden nie wieder miteinander sprechen, und dennoch hörte er ihre Stimme immer öfter. Er rieb an seinem Handgelenk, spürte, wie sich das Papier unter der Schelle bewegte. Genug davon, Sam Hosseini erwartete die Halsketten. Er nahm sein Werkzeug
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