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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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viele, da die Winstons die einzige bedeutende Familie war, die sich noch in der Stadt aufhielt. Ihr Vater, der in seiner Sorge zur Nachsicht neigte, hatte ihr seine Bibliothek geöffnet, und jetzt konnte sie endlich nach Herzenslust lesen. Alles in allem waren die letzten Wochen mit die friedlichsten ihres Lebens gewesen, und sie kam sich vor, als würde sie in einer fragilen Auszeit, in einem Augenblick der Gnade leben.
    Doch der würde bald vorbei sein. Ihre Mutter war entschlossen, die Hochzeitsvorbereitungen weiter voranzutreiben. Den Eltern ihres Verlobten hatte sie sogar versichert, dass sich Sophias Tremor besserte, was definitiv nicht der Fall war. Sophia hatte nur gelernt, ihn geschickter zu verbergen. Und was Charles anbelangte, so machte er bislang den Eindruck, als wolle er sich vom Anblick seiner zitternden Verlobten nicht beirren lassen. Bei jedem Treffen erkundigte er sich nach ihrer Gesundheit – sie bemühte sich jedes Mal um eine Antwort, die weder die Unwahrheit noch eine Klage war – und ließ dann einen Schwung belangloser Höflichkeiten vom Stapel. Genau diese Art Unterhaltung hatte sie gehofft, nie mit ihrem Mann führen zu müssen, und sie bezweifelte, dass er Vergnügen daran hatte. Sie befürchtete, dass ihr Eheleben einem schlechten Roman gleichen würde: der unzufriedene junge Ehemann, die kränkliche Erbin.
    Sie schaute den geschäftigen Männern und Frauen vor dem Fenster ihres Wagens zu und fragte sich, wie es wäre, sich unter sie zu mischen, sich von diesem warmen Gedränge forttreiben zu lassen, weit, weit weg.
    Und dann sah sie ihn.
     
    An diesem Vormittag war es in der Schmiede besonders stickig. Jeder Schlag von Arbeelys Hammer, jeder dumpfe Knall von Metall auf Metall schien darauf abgestimmt und dazu berechnet, die Nerven noch weiter zu strapazieren. Und als Arbeely grummelte, dass die Rohhaut seines Hammers bald zu dünn sein würde, erklärte der Dschinn, er werde im Sattlereigeschäft in der Clarkson Street Leder kaufen. Es war ein weiter Weg für eine kleine Sache, aber Arbeely hatte ihm nicht widersprochen. Offenbar wollten sich beide aus den Augen gehen.
    Sie hatten wieder gestritten, bitterlich, diesmal wegen Matthew. Arbeely hatte in Erfahrung gebracht, dass der Junge keinen Vater hatte, und schien der Ansicht zu sein, dass sich der Dschinn Sorgen um Matthews Wohlergehen machen sollte. In dem darauffolgenden Streit waren Ausdrücke wie
moralisches Vorbild
und
geeignete Vaterfigur
und andere undurchschaubare Forderungen laut geworden, von denen der Dschinn vermutete, dass sie etwas Vorwurfsvolles hatten. Was ging es Arbeely an, wenn Matthew seine Nachmittage mit ihm verbringen wollte? In Wahrheit, so argwöhnte der Dschinn, war Arbeely eifersüchtig. Matthew achtete kaum auf ihn, auch wenn er widerspruchslos gehorchte, wann immer ihn Arbeely auf die späte Stunde hinwies und sagte:
Deine Mutter wird sich Sorgen machen.
Doch jeden Nachmittag setzte sich der Junge wortlos auf die Bank des Dschinns. Und das war kein Wunder. Wer würde seinen Nachmittag mit Arbeely verbringen, wenn er es vermeiden konnte? Der Kupferschmied wurde jeden Tag miesepetriger, seine Stirn runzelte sich vor Sorge und Missbilligung, seine Augen waren vor Schlafmangel eingesunken.
Du siehst fürchterlich aus
, sagte der Dschinn eines Morgens zu ihm, woraufhin der Mann ihn mit erschreckend unverhohlener Feindseligkeit angeblickt hatte.
    Er verließ die Schmiede, wie üblich in grüblerischer Stimmung, und überquerte die Straße, wich gereizt Wagen und Pferden aus. Ein Stau hatte sich hinter einem Hansom gebildet, der vom Gehsteig wegfahren wollte. Der Einspänner setzte sich in Bewegung, und der Dschinn schaute durch das Fenster, als er daran vorbeiging.
    Es war eindeutig Sophia – und doch musste er noch einmal hinsehen. Sie war blass und schwarz gekleidet und hatte sich auf erschreckende Weise verändert. Ihr dunkles Zimmer mit den abgedeckten Möbeln fiel ihm ein. Was war passiert? War das Mädchen krank?
    Sie blickte auf und sah ihn. Ihre Miene brachte Überraschung, Bestürzung, Zorn zum Ausdruck – doch sie wurde weder rot, noch senkte sie den Blick, wie sie es früher getan hätte. Sie hielt seinem Blick stand und sah ihn mit so unverhohlener, schutzloser Traurigkeit an, dass er als Erster wegschauen musste.
    Im nächsten Moment war der Wagen an ihm vorbeigefahren. Verwirrt und erschüttert setzte der Dschinn seinen Weg fort. Er sagte sich, dass sie ein wohlhabendes Mädchen war, und

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