Golem und Dschinn: Roman (German Edition)
kamen wieder aus den Häusern auf der Suche nach einem letzten Abenteuer, bevor sie ins Bett mussten.
Der Mann schwieg. Sie wusste nicht einmal seinen Namen, doch sie zögerte, ihn zu fragen, weil er so tief in Gedanken versunken war. Sie hörte die Fragen in seinem Kopf, die sich alle um sie drehten:
Was soll ich mit ihr tun?
Und plötzlich sah sie vor sich, wie sie niedergeschlagen wurde und als formloser Haufen Erde und Lehm mitten auf der Straße liegenblieb.
Sie blieb stocksteif stehen. Doch statt Entsetzen empfand sie eine tiefe Erschöpfung. Vielleicht wäre es das Beste. Sie hatte hier niemanden, keinen Daseinszweck.
Er bemerkte, dass sie nicht länger neben ihm ging und wandte sich besorgt um. »Stimmt etwas nicht?«
»Sie wissen, wie man mich zerstört«, sagte sie.
»Ja«, gab er nach einer Weile vorsichtig zu. »Das weiß ich. Heutzutage gibt es nicht mehr viele, die so etwas können. Woher wissen Sie es?«
»Ich habe es in Ihrem Kopf gesehen«, antwortete sie. »Sie haben daran gedacht. Einen Augenblick lang wollten Sie es tun.«
Verwirrt runzelte er die Stirn – und dann lachte er freudlos. »Wer immer Sie erschaffen hat«, sagte er, »war ein brillanter, unverantwortlicher und ziemlich unmoralischer Mensch.« Er seufzte. »Sie können die Wünsche anderer Leute spüren?«
»Und ihre Ängste«, sagte sie. »Seit mein Meister gestorben ist.«
»Haben Sie deswegen den Knisch für den Jungen gestohlen?«
»Ich wollte nicht stehlen«, protestierte sie. »Er war so – so furchtbar hungrig.«
»Das hat Sie überwältigt«, sagte er, und sie nickte. »Darum müssen wir uns kümmern. Vielleicht mit viel Übung … Nun ja, das kann im Moment warten. Erst müssen wir ein paar praktische Dinge erledigen, zum Beispiel Kleider für Sie auftreiben.«
»Dann – werden Sie mich nicht zerstören?«
Er schüttelte den Kopf. »Vielleicht wünscht man sich einen Augenblick lang etwas, während man insgeheim den Wunsch zurückweist. Sie müssen lernen, die Menschen nach ihren Taten zu beurteilen, nicht nach ihren Gedanken.«
Nach einem Moment des Zögerns sagte sie: »Seitdem mein Meister gestorben ist, sind Sie der Erste, der freundlich zu mir ist. Wenn Sie es für das Beste halten, mich zu zerstören, werde ich mich Ihrer Entscheidung fügen.«
Er blickte entsetzt. »Waren die paar Tage so schwierig für Sie? Ja, das müssen sie gewesen sein.« Er legte ihr tröstlich die Hand auf die Schulter, seine dunklen Augen blickten freundlich. »Ich bin Rabbi Avram Meyer«, sagte er. »Wenn Sie gestatten, werde ich Sie beschützen und für Sie sorgen. Ich werde Ihnen ein Zuhause geben und Sie, soweit es mir möglich ist, unterweisen, und dann werden wir gemeinsam entscheiden, was das Beste ist. Einverstanden?«
»Ja«, sagte sie erleichtert.
»Gut.« Er lächelte. »Jetzt kommen Sie mit. Wir sind fast da.«
Rabbi Meyer wohnte in einem Gebäude, das aussah wie alle anderen, die steinerne Fassade von Schmutz und Rauch gefleckt. Der Eingang war dunkel und eng, aber sauber; die Treppe knarzte protestierend unter ihren Füßen. Der Golem bemerkte, dass der Rabbi umso mühsamer atmete, je weiter sie hinaufstiegen.
Der Rabbi wohnte im vierten Stock. Ein schmaler Flur führte in ein vollgestopftes Zimmer mit einer tiefen Spüle, einem Ofen und einem Eisschrank. Über der Spüle waren Unterwäsche und Socken zum Trocknen aufgehängt. Haufen von Schmutzwäsche lagen auf dem Boden. Auf dem Ofen stand schmutziges Geschirr.
»Ich habe nicht mit Besuch gerechnet«, sagte der Rabbi verlegen.
Ins Schlafzimmer passten gerade ein Bett und ein Kleiderschrank. Hinter der Küche war ein kleines Wohnzimmer mit einem tiefen, abgewetzten Sofa aus grünem Samt unter einem großen Fenster. Daneben standen ein kleiner Holztisch und zwei Stühle. Eine Wand war mit Büchern bedeckt, die Buchrücken gebrochen und verblasst. Mehr Bücher stapelten sich zufällig verteilt auf dem Boden.
Der Rabbi sagte: »Ich habe nicht viel, aber es ist ausreichend. Betrachten Sie es für den Augenblick als Ihr Zuhause.«
Der Golem stand mitten im Zimmer und wollte sich nicht mit dem schmutzigen Kleid auf das Sofa setzen. »Danke«, sagte sie.
Dann schaute sie zum Fenster. Der Himmel war dunkel, und die Gaslampen in der Wohnung des Rabbis brannten hell, sodass sie sich im Glas spiegelte. Sie sah das Bild einer Frau vor dem Gebäude auf der anderen Straßenseite. Sie hob eine Hand und ließ sie wieder sinken; die Frau im Fenster tat dasselbe. Sie
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