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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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trat fasziniert näher.
    »Ah«, sagte der Rabbi leise. »Sie haben sich selbst noch nicht gesehen.«
    Sie betrachtete ihr Gesicht, fuhr dann mit der Hand durch ihr Haar, spürte die vom Flusswasser verklebten Strähnen. Sie zog daran. Würde es wachsen oder für immer gleich lang bleiben? Sie fuhr sich mit der Zunge über die Zähne und streckte anschließend die Hände nach vorn. Ihre Fingernägel waren kurz und eckig. Der Nagel auf dem linken Zeigefinger war nicht ganz in der Mitte. Sie fragte sich, ob es außer ihr jemals irgendwer bemerken würde.
    Der Rabbi sah ihr zu. »Ihr Schöpfer war sehr talentiert«, sagte er. Doch er konnte einen leisen Unterton der Missbilligung nicht unterdrücken. Sie schaute wieder auf ihre Fingerspitzen. Nägel, Zähne, Haar: Nichts davon war aus Lehm.
    »Ich hoffe«, sagte sie und beobachtete, wie sie den Mund bewegte, »dass niemand zu Schaden kam, nur weil ich erschaffen wurde.«
    Der Rabbi lächelte traurig. »Das hoffe ich auch. Aber was passiert ist, ist passiert, und Sie haben daran keinerlei Schuld, wie auch immer die Umstände waren. Jetzt muss ich los, um Ihnen saubere Kleider zu besorgen. Bitte, bleiben Sie hier – ich bin gleich wieder da.«
    Als sie allein war, betrachtete sie noch eine Weile ihr Spiegelbild und dachte nach. Was, wenn der Rabbi nicht genau zum richtigen Zeitpunkt aufgetaucht wäre? Sie hatte in dem Kreis wütender Menschen gestanden und gespürt, wie sich die Welt von ihr zurückzog, hatte sich gefühlt, als würde sie gleich eine Schwelle übertreten – wohin? Sie wusste es nicht. Aber in diesem Augenblick hatte sie sich ruhig gefühlt. Friedlich. Als würden ihr gleich alle Sorgen und Entscheidungen abgenommen. Als sie daran dachte, empfand sie eine Angst, die sie nicht verstand.
     
    Es war spät, und die meisten Geschäfte hatten geschlossen; doch der Rabbi wusste, dass in der Nähe der Bowery Street noch ein paar Läden geöffnet waren, wo er einen Morgenrock und Unterwäsche für eine Frau kaufen konnte. Er konnte sich die Ausgaben kaum leisten – abgesehen von einem kleinen Ruhegeld von seiner früheren Gemeinde, bestritt er seinen Lebensunterhalt mit Hebräischunterricht für Jungen, die für die
Bar-Mizwa
lernten. Aber es musste sein. Vorsichtig überquerte er die lärmende Straße, ging betrunkenen Männern aus dem Weg und mied die Blicke der Frauen, die unter der Hochbahn auf Kundschaft warteten. In der Mulberry Street fand er einen offenen Kleiderladen und kaufte eine Hemdbluse und einen Rock, einen Morgenmantel, Unterröcke und Unterhosen und Strümpfe samt Strumpfgürtel. Nach kurzem Zögern legte er auch noch ein Nachthemd auf den Stapel. Zum Schlafen bräuchte sie es selbstverständlich nicht, aber die Auswahl an Frauenkleidern hatte ihn überwältigt; und außerdem konnte sie den Morgenmantel nicht ohne etwas darunter tragen. Der Verkäufer blickte stirnrunzelnd auf seine Jacke und die Fransen des Gebetsschals, steckte jedoch rasch das Geld ein.
    Er trug das mit Schnur umwickelte Paket zurück über die Bowery und dachte nach. Es würde schwierig werden, mit jemandem zu leben, der seine Wünsche spüren konnte. Wenn er nicht aufpasste, würde er sich ständig ermahnen und sich in dem verrückten Spiel
Denk nicht daran
verfangen. Er musste vollkommen ehrlich und unerschrocken sein und durfte nichts verbergen. Es würde nicht einfach werden. Aber mit falscher Höflichkeit täte er ihr keinen Gefallen. Die Welt würde ihr nicht so zuvorkommend begegnen.
    Seine Taten, unter anderem dass er ihr Obdach gab, hätten Folgen: Das hatte er schon in dem Augenblick gewusst, als er sie als Golem erkannt und beschlossen hatte, sie nicht zu zerstören. Rabbi Avram Meyer, kinderlos, im Ruhestand und seit fast zehn Jahren verwitwet, hatte sich ein ruhiges Alter und einen unspektakulären Tod vorgestellt. Doch wie es schien, hatte der Allmächtige andere Pläne mit ihm.

    Im Flur eines unscheinbaren Mietshauses öffnete Boutros Arbeely die Wohnungstür und trat beiseite, um seinem Gast den Vortritt zu lassen. »Hier ist es. Mein Palast. Ich weiß, es macht nicht viel her, aber du darfst herzlich gern hierbleiben, bis du eine eigene Wohnung gefunden hast.«
    Der Dschinn schaute sich beunruhigt um. Arbeelys
Palast
war ein winziges dunkles Zimmer, in das kaum ein Bett, ein kleiner Kleiderschrank und ein halbmondförmiger Tisch passten, den er vor die verschmutzte Spüle geschoben hatte. Die Tapete wellte sich und löste sich von den Wänden. Der

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