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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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das Essen ab und reichte es dem Jungen. Der rannte im nächsten Augenblick so schnell er konnte auf der Straße davon.
    Der Mann packte sie am Arm. »Was haben Sie sich dabei gedacht?«, knurrte er sie an.
    »Es tut mir leid«, sagte sie und wollte es erklären, doch der Mann war rot im Gesicht und wütend. »Sie Diebin!«, rief er. »Dafür werden Sie bezahlen!«
    Andere Leute wurden aufmerksam. Eine ältere Frau ergriff Partei für den Mann. »Ich habe alles gesehen«, sagte sie und schaute den Golem böse an. »Sie hat Ihr Knisch gestohlen und es dem Jungen gegeben. Also, Mädchen? Was hast du dazu zu sagen?«
    Sie blickte sich verwirrt um. Männer und Frauen bildeten einen Kreis um sie, weil sie unbedingt sehen wollten, was passieren würde. »Zahl gefälligst«, rief jemand.
    »Ich habe kein Geld«, sagte sie.
    Die Leute lachten höhnisch. Sie wollten, dass sie bestraft wurde; sie sollte dafür bezahlen. Sie bombardierten sie mit ihren zornigen Wünschen wie mit Steinen.
    Panik überkam sie – und ebbte merkwürdigerweise wieder ab. Sie hatte das Gefühl, als würde sich die Zeit verlangsamen, strecken. Farben wurden intensiver, sie sah schärfer. Die tief stehende Sonne schien so hell wie am Mittag.
Holt einen Polizisten
, rief jemand, und die Wörter klangen wie gelallt und in die Länge gezogen. Sie kam sich vor, als würde sie wankend am Rand eines Abgrunds stehen und gleich hineinstürzen.
    »Das wird nicht nötig sein«, sagte eine Stimme.
    Sofort wandten sie die Aufmerksamkeit von ihr ab – und der Golem spürte, wie der Abgrund verschwand. Erleichtert öffnete sie die Augen wieder.
    Es war der alte Mann mit der schwarzen Jacke, der sie zuvor beobachtet hatte. Er trat rasch durch die Menge, seine Miene besorgt. »Reicht das für Ihr Knisch?«, fragte er und gab dem Mann eine Münze. Dann legte er ihr sehr langsam, als wollte er den Golem nicht erschrecken, eine Hand auf den Arm. »Kommen Sie mit, meine Liebe«, sagte er ruhig, aber bestimmt.
    Hatte sie eine Wahl? Entweder er oder die Menge. Langsam trat sie auf den Mann zu, fort von ihrem Peiniger, der stirnrunzelnd die Münze betrachtete.
    »Aber das ist zu viel«, sagte er.
    »Dann tun Sie mit dem Rest etwas Gutes«, entgegnete der alte Mann.
    Die Menge löste sich auf, manche hatten das Gefühl, um ein Vergnügen gebracht worden zu sein. Bald standen die beiden allein auf dem Gehweg.
    Er betrachtete sie wieder so, wie er es im Schatten des Wagens getan hatte. Dann neigte er sich vor und schien an der Luft um sie herum zu schnüffeln. »Wie ich gedacht habe«, sagte er ein bisschen bedauernd. »Sie sind ein Golem.«
    Entsetzt wich sie einen Schritt zurück, bereit davonzulaufen. »Nein, bitte«, sagte er. »Sie müssen mit mir kommen, Sie können nicht weiter so durch die Straßen wandern. Man wird Sie entdecken.«
    Sollte sie davonlaufen? Aber andererseits hatte er sie gerade gerettet; und er schien weder missbilligend noch wütend zu sein, nur besorgt. »Wohin werden Sie mich bringen?«, fragte sie.
    »Zu mir nach Hause. Es ist nicht weit.«
    Sie wusste nicht, ob sie ihm vertrauen konnte – aber er hatte recht, sie konnte nicht ewig durch die Straßen wandern. Sie entschied, dass sie ihm vertrauen musste. Dass sie
irgendjemandem
vertrauen musste.
    »Na gut«, sagte sie.
    Sie gingen den Weg zurück, den sie gekommen war. »Und jetzt sagen Sie mir«, verlangte der alte Mann, »wo ist Ihr Meister?«
    »Er ist auf See gestorben, vor zwei Tagen. Wir waren auf der Überfahrt von Polen.«
    Der Mann schüttelte den Kopf. »Wie bedauerlich«, sagte er. Ob er Rotfelds Tod meinte oder die Situation insgesamt, wusste sie nicht. »Und Sie haben zuvor in Polen gelebt?«
    »Nein, nur mein Meister«, antwortete sie. »Er hat mich erst auf der Überfahrt geweckt, kurz bevor er gestorben ist.«
    »Wann war das?«
    »Vor zwei Tagen.«
    Er blickte überrascht drein. »Wollen Sie damit sagen, dass Sie erst zwei Tage alt sind? Erstaunlich.« Er bog um eine Ecke, der Golem folgte ihm. »Und wie haben Sie es allein durch Ellis Island geschafft?«
    »Ich war nicht dort. Ein Mann auf dem Schiff wollte mich befragen, weil ich keine Papiere hatte. Da bin ich in den Fluss gesprungen.«
    »Das zeugt von schnellem Reaktionsvermögen.«
    »Ich wollte nicht entdeckt werden«, sagte sie.
    »Trotzdem.«
    Sie gingen weiter den Weg, den der Golem gekommen war. Die Sonne war längst hinter den Gebäuden verschwunden, aber der dunstige Himmel leuchtete noch messingfarben. Die Kinder

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