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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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Bald wird mein Kind zur Welt kommen, und ich habe niemand, der mir hilft. Ich kann nicht nach Hause zu meinen Eltern. Ich habe kein Geld, und niemand stellt mich ein. Ich bitte Sie um einhundert Dollar. Bitte bringen Sie das Geld morgen Mittag zur Hester Street, Ecke Chrystie Street. Oben auf der Treppe vor dem Haus an der südwestlichen Ecke steht ein Blumentopf. Legen Sie den Umschlag unter den Topf und gehen Sie wieder. Ich werde Sie beobachten.
    Wenn Sie das Geld nicht bringen, werde ich zur Polizei gehen und die Wahrheit erzählen. Ich werde sagen, dass Chava Irving angegriffen hat, und werde verraten, wo sie zu finden ist. Ich bin kein schlechter Mensch, aber ich bin verzweifelt, und ich muss für mich und mein Baby sorgen.
     
    Hochachtungsvoll,
    Anna Blumberg
    »Joseph Schall war heute in der Bäckerei«, sagte der Golem.
    »Ja?« Michael nahm sich noch mehr Nudelauflauf. »Ach, die Makronen! Die hätte ich beinahe vergessen.« Er lächelte seine Frau an. »Danke, sie waren köstlich.«
    »Mr. Schall ist ein interessanter Mann«, sagte sie. »Erzähl mir etwas über ihn.«
    »Über Joseph?« Er runzelte verwundert die Stirn. »Was willst du wissen?«
    »Irgendwas. Woher kommt er, was hat er getan? Hat er Familie hier?«
    Sie wollte eigentlich nur beiläufig interessiert erscheinen, doch Michael lächelte bereits. »Chava, du klingst wie die Einwanderungsbehörde auf Ellis Island.«
    »Ich weiß so wenig über ihn. Außer dass er dich an deinen Onkel erinnert. Und du viel von ihm hältst.«
    »Das stimmt. Manchmal denke ich, dass er allein das Wohnheim zusammenhält.« Er kaute und überlegte. »Er kommt aus Polen. Ich weiß nicht genau, aus welcher Stadt.« Dann lachte er. »Weißt du, jetzt, wo du mich nach ihm fragst, merke ich, dass ich so gut wie nichts über ihn weiß. Irgendwann muss er ein Gelehrter gewesen sein, wenn nicht gar ein Rabbiner. Zumindest redet er so. Er war nie verheiratet, und er hat keine Familie in Amerika.«
    »Warum er dann wohl nach Amerika gekommen ist?«
    »Wie du weißt, sind die Zeiten schwierig in Europa.«
    »Ja, aber die älteren Menschen sind normalerweise in ihrer Heimat stark verwurzelt. Ganz allein in ein fremdes Land zu gehen und dann in einem Wohnheim zu leben, schwer zu arbeiten für so wenig –«
    »Ich bezahle ihn«, sagte Michael.
    »Ich meine ja nur, dass er aus irgendeinem Grund unbedingt nach New York hat kommen wollen. Oder vielleicht gab es auch einen Grund, warum er nicht in Europa bleiben konnte.«
    Er warf ihr einen besorgten Blick zu. »Willst du damit sagen, dass er vor etwas davongelaufen ist?«
    »Nein, natürlich nicht! Er ist mir nur ein Rätsel, das ist alles.«
    »Kein so großes Rätsel wie andere, die ich kenne.«
    Darüber lachte sie, wie er es sich gewünscht hatte, und dann räumte sie das Geschirr ab. Sie war nicht vorsichtig genug gewesen; er wunderte sich noch immer, warum sie sich für Joseph Schall interessierte. Vielleicht war das auch gut so. Vielleicht würde er Schall besser im Auge behalten und ihr sagen, wenn er sich merkwürdig verhielt.
    Michael blickte gedankenverloren drein. »Er hat mich einmal nach Onkel Avram gefragt«, sagte er.
    Der Golem blieb stehen, Geschirr in der Hand. »Ja?«
    »Wegen seiner Bibliothek. Er war auf der Suche nach einem bestimmten Buch. Eins aus seiner Schulzeit, hat er gesagt.«
    »Hat er gesagt welches Buch?«
    »Nein, ich habe ihm erklärt, dass ich alle Bücher weggegeben habe. Er schien ziemlich enttäuscht. Es war das einzige Mal, dass ich es bedauert habe.« Er lächelte. »Aber kannst du dir vorstellen, mit so vielen Büchern in dieser kleinen Wohnung zu leben? Was hätten wir damit tun sollen?«
    »Wir hätten das Bett rauswerfen müssen«, sagte sie, und er lachte.
    In dieser Nacht lag sie neben ihm, gab wieder einmal vor zu schlafen und dachte über Joseph Schall nach. Warum hatte er nach den Büchern des Rabbis gefragt? Hatte er ein finsteres Motiv? Oder war sie grundlos misstrauisch? In der Lower East Side gab es zahllose private jüdische Bibliotheken; vielleicht sollte sie ihm anbieten, ihm bei der Suche nach diesem Buch zu helfen. Nein, das wäre ein zu eigenartiges Angebot. Sie musste sich auf Michael verlassen. Außerdem war Joseph Schall wahrscheinlich bloß ein kauziger alter Mann. Sie bildete sich nur etwas ein, um sich zu zerstreuen.
    Sie drehte sich um und versuchte, eine bequemere Position zu finden. Es war erst ein Uhr nachts, und ihre Beine begannen bereits zu schmerzen. Die

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