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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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»Acetanilid«, sagte er. »Kopfwehpulver. Ist das die einzige Medizin, die sie nimmt? Sonst nichts?« Ein weiteres Nicken.
    Maryam kam mit einem Eimer hereingelaufen. »Hier ist das Eis«, sagte sie.
    »Gut«, sagte der Doktor. »Das werden wir brauchen.« Dann fragte er Matthew: »War sie bei einem Arzt?« Matthew flüsterte einen Namen, und der Mann kniff angewidert die Lippen zusammen. Er zog seine Brieftasche heraus und entnahm ihr einen Geldschein. »Hol ihn«, sagte er. »Wenn er nicht kommen will, gib ihm das. Aber sag ihm nicht, dass ich hier bin.« Und dann rannte Matthew wieder davon.
    Der Dschinn stand steif in einer Ecke des Zimmers. Er kannte Matthews Mutter nicht, wusste nicht einmal ihren Namen. Er wollte unbedingt weg, brachte es jedoch nicht über sich zu gehen. Er sah zu, wie Maryam Matthews Mutter ein eiskaltes Tuch auf die Stirn legte und beruhigende Worte murmelte. Die Augen der Frau bewegten sich unter den Lidern. Der Arzt nahm ein Fläschchen mit einer klaren Flüssigkeit und ein Röhrchen mit einer langen Nadel an einem Ende aus seiner Tasche. Er vollführte ein Manöver mit Fläschchen und Röhrchen – auch er hatte diesen Vorgang offenbar unzählige Male wiederholt – und legte die Nadelspitze auf die Innenseite ihres Ellbogens. Maryam zuckte zusammen und schaute weg.
    Der Dschinn sah fasziniert zu, wie die Nadel im Arm der Frau verschwand. »Was ist das?«
    »Chinin«, sagte der Arzt und zog die Nadel wieder aus dem Arm. Im Ellbogen der Frau bildete sich ein winziger Blutstropfen. Es kam ihm vor wie eine Sinnestäuschung, ein Zaubertrick.
    »Was ist mit dem Pulver?«
    »Wenn sie genug davon genommen hat, hat es vielleicht ihre Kopfschmerzen erleichtert.«
    Sie saßen in angespanntem Schweigen da und horchten auf die flachen Atemzüge der Frau. Der Dschinn blickte sich um und nahm zum ersten Mal seine Umgebung wahr. Die Wohnung war so winzig, dass er eine Gänsehaut bekam. Die Möbel waren abgenutzt und wacklig. Auf dem Kaminsims standen in einer Vase verstaubte Papierblumen unter einem verblassten Aquarell eines Bergdorfes. Schwere Vorhänge hingen vor den Fenstern, um auch noch den letzten Sonnenstrahl auszusperren.
    Hier also lebte Matthew. So hatte es sich der Dschinn nicht vorgestellt. Aber was hatte er sich vorgestellt? Nichts. Er war nicht auf den Gedanken gekommen, sich etwas vorzustellen.
    »Danke, dass Sie gekommen sind, Dr. Joubran«, sagte Maryam.
    Der Mann nickte, blickte dann neugierig zum Dschinn. »Sie sind Boutros Arbeelys Partner, nicht wahr? Der Beduine.«
    »Ahmad«, murmelte der Dschinn.
    »Haben Sie sie gefunden?«
    »Matthew hat sie gefunden. Und dann hat er mich geholt. Ich habe sie nie zuvor gesehen.«
    Endlich kehrte Matthew zurück, einen schäbig gekleideten Mann im Schlepptau, der ebenfalls eine Ledertasche bei sich hatte. Beim Anblick von Dr. Joubran zuckte der Mann zusammen. Er drehte sich um und wäre am liebsten davongelaufen, doch Maryam stand rasch auf und stellte sich ihm in den Weg.
    »Sie haben diese Frau behandelt, ist das richtig?«, sagte Dr. Joubran. »Wie lautet Ihre Diagnose, wenn ich fragen darf?«
    Der Mann trat nervös von einem Fuß auf den anderen. »Sie hat über Kopfschmerzen geklagt, schmerzende Gelenke und Fieber. Ich habe auf nervöse Hypochondrie geschlossen, ihr aber Acetanilid verschrieben.«
    »Ich nehme an, dass Sie noch nie einen Fall von
Lupus erythematodes
gesehen haben?«
    Der Mann blinzelte. »Lupus?«
    »Ein Blick in ihr Gesicht hätte genügen müssen!«
    Der Mann neigte sich vor und starrte sie verwirrt an.
    »Verschwinden Sie und beten Sie für sie«, sagte der Arzt. Und der Mann schlich aus der Wohnung.
    »Nutzloser Scharlatan«, murmelte Dr. Joubran und griff wieder nach Nadel und Fläschchen. Als sie das sah, sagte Maryam zu Matthew: »Komm mit, Matthew, wir holen frisches Eis für deine Mutter«, und führte den Jungen aus dem Zimmer.
    Der Dschinn schaute zu, wie die Nadel erneut verschwand, diesmal in ihrem Bauch. Ihm wurde seltsam schwindlig davon. Er setzte sich auf einen Stuhl. »Und davon wird es ihr besser gehen?«, fragte er.
    »Möglicherweise«, sagte der Doktor. »Aber es ist unwahrscheinlich. Ihre Krankheit ist zu weit fortgeschritten. Ihre Organe versagen.« Er nahm die Hand der Frau und drückte einen Finger auf den Handrücken; ein paar Sekunden blieb der Fingerabdruck in ihrer Haut. »Sehen Sie? Ihr Körper füllt sich mit Flüssigkeit, die gegen ihre Lungen drückt. Bald wird sie ihr Herz

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