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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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schlimmste Sommerhitze war vorbei, und die meisten Bewohner des Hauses schliefen tief. Nur ein paar Leute waren noch wach und ärgerten sie mit ihren Gedanken. Draußen schlenderte ein Mann die Straße entlang, zufrieden mit sich und seinem Leben. Er wollte nur herumspazieren, bis die Sonne aufging. Unter einer Straßenlampe blieb er stehen, um sich eine Zigarette zu drehen.
    Eine leise Hoffnung regte sich in ihr.
    Als er in seinen Taschen nach Streichhölzern suchte, ärgerte er sich. Endlich fand er sie, zündete zufrieden die Zigarette an und ging weiter.
    Sie schalt sich selbst für ihre Dummheit. Er konnte es selbstverständlich nicht sein. Wäre er es gewesen, hätte sie ihn nicht gespürt. Er wusste nicht, wo sie jetzt wohnte, hatte keine Ahnung, dass sie verheiratet war. Sie würde ihn nie wiedersehen.
    »Chava!«
    Oh, nein.
Michael war zu Tode erschrocken erwacht. Sie hatte zu reglos dagelegen und vergessen zu atmen.
    Sie drehte sich um, tat so, als wäre sie verschlafen. »Was ist? Was ist los?«
    Seine Augen waren weit aufgerissen. »Ich dachte – einen Augenblick lang habe ich geglaubt –« Er seufzte. »Entschuldige. Es war nichts. Ein Albtraum.«
    »Alles in Ordnung. Psst. Schlaf weiter.«
    Er schlang die Arme um sie, seine Brust an ihrem Rücken. Sie verschränkte die Finger mit seinen und zog sie fort von der Stelle, wo ihr Herz hätte sein müssen. So lagen sie da bis zum Tagesanbruch. Der Golem, gefangen in Michaels Armen, zählte die Minuten.
     
    Der Albtraum verfolgte Michael bis in den Morgen. Er war aufgewacht – oder meinte erwacht zu sein –, und seine Frau hatte leblos neben ihm gelegen, reglos wie Marmor. Doch dann war sie wieder sie selbst, lebendig und atmend. Merkwürdig, wie Traum und Realität so nahtlos ineinander übergehen konnten. Er fragte sich, welchen Ursprung der Traum hatte. Seine Mutter oder Tante hatte ihm einmal ein Märchen erzählt von einer Leichenfrau oder einem unheimlichen Wechselbalg aus Holz.
    Er sah seiner Frau zu, die in der Küche hantierte. »Hast du überhaupt geschlafen?«
    Sie lächelte ihn zerstreut an. »Ein bisschen.«
    »Soll ich etwas fürs Abendessen kaufen? Leber beim Metzger vielleicht?«
    »Ist das nicht zu teuer?«
    »Ach, ich glaube, hin und wieder können wir uns das leisten.« Er lächelte, umarmte und küsste sie. »Außerdem müssen wir dich bei Kräften halten.«
    Für den Fall, dass wir eine Familie gründen
, hätte er beinahe hinzugefügt, doch er hielt sich im letzten Augenblick zurück. Er hatte sie nie gefragt, ob sie wirklich Kinder wollte. Es war eins der vielen Gespräche, die sie nie geführt hatten, bevor sie heirateten. Das würden sie nachholen müssen, und zwar bald. Aber nicht jetzt – er war bereits spät dran. Er küsste sie noch einmal und ging.
    Auf halber Strecke zum Wohnheim fielen ihm Chavas Fragen zu Joseph Schall ein. Irgendwie passten sie zu seinem Albtraum – Volksmärchen, Kindergeschichten … Ja, natürlich: Joseph suchte nach einem Buch aus seiner Kindheit. Und er hatte gehofft, Michaels Onkel hätte ein Exemplar davon. Er erinnerte sich, wie er am letzten Abend der Schiwe die alten Bücher im Ranzen seines Onkels gefunden und sie ins Regal gestellt hatte. Hätte er sie doch behalten – vielleicht war eins davon das Buch gewesen, das Joseph suchte …
    Er runzelte die Stirn. Hatte er nicht auch einen Stapel Papiere seines Onkels gefunden, sie in den Ranzen gesteckt und mit nach Hause genommen? Die Erinnerung hatte etwas von einem Fiebertraum – es war kurz vor seiner Einlieferung ins Krankenhaus von Swinburne gewesen –, dennoch war er sicher, dass es tatsächlich so gewesen war. Was war mit dem Ranzen passiert? In ihrer winzigen Wohnung war er nicht – sie hatten so wenige Dinge, dass er ihn gesehen hätte. Konnte er noch in seiner alten Wohnung sein?
    Er war spät dran, aber die Erinnerung an den Ranzen und die Papiere ließ sich nicht mehr verscheuchen. Und seine alte Wohnung lag nur ein paar Straßen entfernt. Rasch schlug er eine andere Richtung ein.
    Einer seiner früheren Mitbewohner öffnete verschlafen die Tür und blinzelte wie eine Eule.
Ein lederner Ranzen? Voller Papiere? Mal sehen – vielleicht liegt er irgendwo rum …
Und da war er, versteckt in einem Haufen Wäsche unter einem Beistelltisch. Genau wo Michael ihn vor Monaten abgelegt hatte. Er nahm ihn mit ins Wohnheim, da er ihn erst öffnen wollte, wenn er allein war. Er hatte so wenige Dinge seines Onkels behalten, dass

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