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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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anderes jenseits der Laute. Ihre unheimliche Gewohnheit, alle seine Bedürfnisse im Voraus zu wissen. Ihr seltenes Lachen. Ihr distanzierter Blick.
    Nein.
Er kämpfte gegen die Flut an, befahl sich, vernünftig zu sein. Sein Onkel beschrieb – was? Dass sie eine Art künstliches Geschöpf war? Dass sein Albtraum real war?
    Nur noch ein paar Seiten waren übrig. Er wollte nicht weiterlesen – ihm war mulmig zumute –, doch seine Hand blätterte rebellisch Seite für Seite weiter. Sein Onkel hatte sie wild vollgekritzelt wie ein Student, der für eine Prüfung büffelt. Gedanken waren eingekreist, durchgestrichen, neu formuliert.
Mit Fragment des Alphabets von Akiba ben Joseph konfrontieren, dann mit Theorie von Abba ben Joseph bar Hama vergleichen. Unvereinbar? Gibt es Präzendenzfall?
Je mehr Seiten er umblätterte, umso schludriger wurde die Handschrift. Die Wörter waren vor Hast oder Müdigkeit unregelmäßig über die Blätter verstreut.
    Auf der letzten Seite standen nur zwei Zeilen. Die eine bestand aus einer langen ununterbrochenen Reihe von Buchstaben. Und darüber, unterstrichen, die Handschrift seines Onkels, zittrig vor Anstrengung:
    Wie man einen Golem an einen neuen Meister bindet.

    In der Wüste wurde es Nacht. Die Schlangen und Wühlmäuse erwachten und krochen aus ihren Verstecken, frische Nahrung für die Falken. Hügel und Felsen schienen flacher zu werden, sodass Ibn Maliks Höhle vom Eingang aus wie ein endloser Abszess in der Erde erschien. Als der Horizont dunkel wurde, machte Abu Yusuf vor der Höhle ein Feuer, wickelte sich gegen die einsetzende Kälte in Schaffelle und versuchte, nicht daran zu denken, was in der Dunkelheit hinter seinem Rücken passierte.
    Ibn Malik hatte nicht übertrieben, als er sagte, dass er sein Leben lang auf diese Gelegenheit gewartet habe. »Die meisten Dschinn sind minderwertige Geschöpfe«, erklärte er Abu Yusuf, während er ihn immer tiefer in das Labyrinth aus Höhlen führte und nur stehenblieb, um die schmierigen Fackeln in den Verbindungsgängen anzuzünden. »Ifrits, Ghule, die untersten und mittleren Dschinn – ich könnte Hunderte von ihnen einfangen, wenn ich wollte, aber wozu die Mühe? Stumpfsinnig und dumm, leicht abzulenken, wozu ist so ein Sklave gut. Aber ein mächtiger Dschinn, das ist etwas ganz anderes.«
    Abu Yusuf hörte nur mit halbem Ohr zu, konzentrierte sich stattdessen darauf, die noch immer bewusstlose Fadwa durch die engen, gewundenen Gänge zu tragen. Manche waren kaum breit genug für einen Mann, und Abu Yusuf, der sein ganzes Leben unter freiem Himmel verbracht hatte, verspürte ein schleichendes Entsetzen, den Drang, umzukehren und davonzulaufen.
    »Ich nehme an, dass du die Geschichten von König Suleiman kennst«, sagte Ibn Malik. Abu Yusuf würdigte diese Bemerkung keiner Antwort, nur ein allein in der Wildnis aufgewachsenes Waisenkind kannte die Geschichten möglicherweise nicht. »Sie sind natürlich ausgeschmückt worden, aber ihr Kern entspricht der Wahrheit. Mit seiner Zauberkraft konnte Suleiman auch die stärksten Dschinn kontrollieren und sie zum Nutzen seines Königreichs einsetzen. Als Suleiman starb, verschwand diese Zauberkraft mit ihm. Oder zumindest der größte Teil davon.« Ibn Malik schaute sich zu Abu Yusuf um. »Ich habe die letzten dreißig Jahre damit verbracht, die Wüste nach den Überresten dieser Zauberkraft zu durchkämmen. Und jetzt hast du mir den Schlüssel dazu gebracht.«
    Abu Yusuf blickte auf das stille Mädchen in seinen Armen.
    »Nicht deine Tochter – das, was
in
ihr ist. Der Funken, den der Dschinn zurückgelassen hat. Wenn wir ihn richtig nutzen, können wir den Dschinn finden und ihn in unsere Gewalt bringen.«
    »Und deswegen kann sie nicht sofort geheilt werden?«
    »Genau«, antwortete Ibn Malik, über die Schulter zurückblickend. »Wenn wir den Funken verlieren, verlieren wir den Schlüssel.«
    Abu Yusuf blieb stehen. Nach ein paar Augenblicken merkte Ibn Malik, dass ihm niemand mehr folgte, und er drehte sich um. Mit der Fackel, die er hoch über seinen Kopf hielt, sah er aus wie ein glühendes Skelett, ein Bild, das auch sein freundliches Lächeln nicht ändern konnte. »Ich verstehe«, sagte er. »Warum solltest du Ibn Malik helfen, diesem verrückten alten Zauberer? Was bedeutet es dir, ob er den Dschinn findet oder nicht? Du sinnst nicht auf Rache und das zu Recht – Rache um ihrer selbst willen ist schlimmer als nur zwecklos. Du willst nur deine Tochter heilen, den

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