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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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erreichen.« Wieder nahm er seine Taschenuhr heraus, hielt ihr Handgelenk und sagte dann: »Ich werde Maryam bitten, nach einem Priester zu schicken.«
    Auch die Nachbarn hatten die Aufregung mitbekommen. Furchtsam steckte eine Frau den Kopf in die Wohnung. Sie und Maryam flüsterten kurz miteinander, dann zog sich die Frau zurück. Im gesamten Hausflur war Türklopfen zu hören. Langsam und wortlos füllte sich die Wohnung mit Frauen. Sie brachten Teller und Schüsseln mit Essen, Brot und Reis und Gläser mit Milch. Sie brachten Stühle und Nähkörbe. Feierlich setzten sie sich und sagten kein Wort.
    Auch Maryams Mann Sayeed kam, und der Dschinn sah, wie sie leise ein paar Worte wechselten. Wieso, so fragte er sich, war ihre gegenseitige Zuneigung und Achtung so offensichtlich, wenn sie sich doch nicht umarmten, nicht einmal berührten? Sayeed ging wieder, augenscheinlich mit einem Auftrag; und der Dschinn fühlte sich erneut überflüssig, ein Hindernis im Raum.
    Ein Gewicht fiel gegen das Bein des Dschinns. Es war Matthew. Der Junge saß zu seinen Füßen und war eingeschlafen. Maryam weckte ihn sanft. »Matthew? Vielleicht solltest du ins Bett gehen?« Doch der Junge schüttelte den Kopf und ergriff die Hand des Dschinns, als sollte er ihn beschützen. Einen Moment lang schien sie erschrocken, sogar gekränkt; doch dann seufzte sie und entfernte sich.
    Sayeed Faddoul kam zurück, begleitet von einem jungen Priester in einer langen schwarzen Soutane, sein Gesicht rund über dem kantig geschnittenen Bart. Eine nach der anderen standen die Frauen auf und verneigten sich vor ihm, und er machte ein Zeichen über ihren Köpfen. Nach kurzem Zögern machte er das Zeichen auch über dem Kopf des Dschinns. Der Priester stellte sich vor das Sofa und begann leise zu beten. Die Frauen senkten die Köpfe; der Arzt nahm die Hand von Matthews Mutter.
    Der Dschinn fragte sich, wer ihm wohl zu Hilfe käme, wenn er im Sterben läge. Arbeely? Maryam? Wer würde einen Priester rufen? Würden seine Nachbarn, mit denen er noch nie ein Wort gewechselt hatte, Wache in seiner winzigen Wohnung halten? Und wer würde es Chava sagen?
    Es war fast Mitternacht, als Nadia Mounsef zum letzten Mal Luft holte und mit einem langen leisen Seufzer ausatmete. Der Doktor nahm seine Uhr heraus und notierte sich etwas. Viele der Frauen fingen an zu weinen. Der Priester begann wieder zu beten. Der Dschinn starrte auf das Gesicht der Frau. Er konnte keinen Unterschied benennen, dennoch sah sie völlig anders aus.
    Der Priester beendete sein Gebet. Eine stille Pause, und dann begannen sich die Menschen im Zimmer zu regen. Maryam und die anderen Frauen versammelten sich neben der Tür und sprachen leise miteinander. Der Dschinn hörte ein-, zweimal das Wort
Matthew.
Ein paar Frauen schauten zu ihm, zu der kleinen schlafenden Gestalt neben ihm, die noch immer seine Hand hielt. Ihm wurde bewusst, dass Matthew den Tod seiner Mutter verschlafen hatte. Jemand müsste ihn wecken. Jemand müsste es ihm sagen.
    Vorsichtig nahm der Dschinn Matthew in die Arme und stand auf. Die Frauen verstummten, als er sich ihnen näherte. Er überreichte Maryam den schlafenden Jungen – sie nahm ihn überrascht entgegen – und verließ die Wohnung.
    Auf der Straße setzte er sich in Bewegung, ohne darauf zu achten, wohin er ging. Jede Faser seines Körpers sehnte sich danach, nach Osten zu gehen, zu dem Fenster in der Broome Street und sich darunterzustellen, bis sie herauskäme. Er würde einen Tag, eine Woche, einen Monat warten. Er sehnte sich nach ihr, wie er sich nie zuvor nach etwas gesehnt hatte. Mit der Sehnsucht stieg ein wirrer Zorn in ihm auf. Er riss sich zusammen und ging zur Schmiede. Er hatte das Feuer brennen lassen. Arbeely wäre außer sich, wenn er es wüsste.
    Ein Umschlag steckte in dem Spalt zwischen Rahmen und Tür der Werkstatt. Vorsichtig zog er ihn heraus.
Ahmad
stand darauf, in hebräischen Schriftzeichen, von einer Frau geschrieben.
    Er riss ihn auf und nahm den Brief darin heraus. Doch sofort verwandelte sich seine Hoffnung in Verwirrung, dann Gereiztheit, die schließlich ungläubigem Ärger wich.
    Mr. Ahmad,
    ich heiße Anna. Wir haben uns im Grand Casino kennengelernt. Ich erinnere mich, dass Sie Jiddisch sprechen, deswegen hoffe ich, dass Sie es auch lesen können. Ich bezweifle, dass Sie vergessen haben, was in jener Nacht in der Gasse passiert ist. Glauben Sie mir, ich habe es auch nicht vergessen.
    Mein Leben war seither nicht einfach.

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