Golem und Dschinn: Roman (German Edition)
ihm die Papiere wertvoll erschienen, auch wenn sie keinem praktischen Zweck dienten.
Im Wohnheim sah er nach, ob das Personal das morgendliche Chaos noch bewältigte. Als alles zu seiner Zufriedenheit geregelt war, schloss er die Tür zu seinem Büro und öffnete den Ranzen.
Sofort legte sich seine Aufregung. Bei den Papieren schien es sich um Notizen zu einem mystischen Thema zu handeln. Er sah Schaubilder, konzentrische Kreise, Spiralen und Sonnen mit Strahlen, dazwischen hebräische Buchstaben. Hier und da waren die esoterischen Kritzeleien mit jiddischen Kommentaren versehen, die den Fortschritt seines Onkels dokumentierten. Er blätterte den Stapel durch, empfand dabei weniger Interesse als vielmehr frischen Kummer. Er hatte seinen Onkel für vernünftig genug gehalten, um sich nicht auf so etwas einzulassen.
Dann fiel sein Blick auf einen Satz, der ihn stutzen ließ.
Ich habe sie Chava genannt.
Er starrte auf die Worte, die vertraute Handschrift. Er blickte auf das Datum oben auf der Seite, erst ein knappes Jahr war seitdem vergangen. Langsam blätterte er zurück zum Anfang.
Wer bin ich, dass ich sie zerstören dürfte? Sie ist genauso unschuldig wie jedes andere Neugeborene …
Der Vorfall mit dem Knisch: Sie hört die Wünsche und Ängste anderer, und sie überwältigen sie. Wie dagegen angehen? Übung, Disziplin. Gilt auch für meine eigenen Gedanken, oder ich riskiere Chaos und Verwüstung.
Wie hat ihr Schöpfer sie mit geistigen Fähigkeiten, einer Persönlichkeit ausgestattet? Eine komplizierte Aufgabe … Allein Sprache erfordert ein gewisses Maß an freiem Willen. Vielleicht nur innerhalb bestimmter Grenzen, ungefähr in der Mitte zwischen Autonomie und Versklavung? Ja, das gilt für uns alle, aber die Balance ist bei uns nicht annähernd so heikel, und eine falsche Berechnung birgt große Gefahr.
Habe der Versuchung widerstanden, ihre physische Kraft zu testen aus Angst vor den Folgen. Doch heute hat sie das Messingbett an einer Ecke hochgehoben, um darunter zu fegen, mit so wenig Anstrengung, wie ich den Wasserkessel anhebe.
Heute ein Experiment: Sie ist allein fünf Blocks weit gegangen und hat sich bewundernswert gehalten.
Die Nächte sind für sie am schwierigsten. Was würde ich tun, wenn ich keinen Schlaf bräuchte und wenig Interesse am Lesen hätte? Ich schlafe selbst schlecht in letzter Zeit – immer die Ängste um ihre Zukunft, um die Sicherheit anderer. Sie weiß es natürlich, aber wir sprechen nicht darüber.
Ihre geistige Disziplin wird besser. Wieder ist sie allein ausgegangen, bis zum Laden und zurück, keine Vorfälle. Beobachtung: Von allen Wünschen, die sie lernen muss zu ignorieren, ist kein einziger sexueller Natur. Dieses Verhalten ist zu konsistent, um Zufall zu sein, außer sie erzählt es mir nicht, um den Anstand zu wahren. Hat ihr Schöpfer, der sie schließlich für einen Mann als Ehefrau schuf, sie resistent gegen Annäherungsversuche anderer gemacht? Damit wäre sie auf alle Zeiten treu – und müsste natürlich auf die Wünsche ihres Meisters eingehen, kraft ihrer Bindung an ihn. Ein schrecklicher, ekelhafter Gedanke. Kann mich nicht überwinden, das Thema offen anzusprechen.
Das Zusammenwohnen wird ungemütlich. Ich muss ihr eine Beschäftigung verschaffen. Näherin? Wäscherin? Jedenfalls braucht sie körperliche Arbeit. Wenn Frauen nur Maurer sein könnten, Schauermänner …
Wird sie jemals wirklich lieben und glücklich sein können? Ich fange an, es wider besseres Wissen zu hoffen.
Habe sie heute zu Michael ins Wohnheim mitgenommen. Sie hat sich gut gehalten, vielleicht ein bisschen steif, und es war schwer für sie, die Gedanken der Männer zu ignorieren. Trotzdem glaube ich, dass sie bereit ist für ein gewisses Maß an Unabhängigkeit. Michael, findig wie immer, hat Radzins vorgeschlagen.
Ich habe sie Chava genannt. Das bedeutet Leben. Eine Mahnung für mich selbst.
Michael legte mit zitternder Hand die Papiere weg. Sein Onkel war wahnsinnig gewesen. Das war die einzige Erklärung. Sie war eine Frau, eine lebende Frau. Sie war
seine
Frau. Sie war ruhig, freundlich, rücksichtsvoll. Eine vorbildliche Ehefrau, eine hervorragende Köchin und Hausfrau.
Sie schlief kaum. Sie schien immer zu wissen, was er dachte.
Wie eine Sintflut überschwemmten lauter kleine Details seine Gedanken, als hätten die Worte seines Onkels einen Damm eingerissen. Ihre ewig kühle Haut. Die Art, wie sie mit ihrem ganzen Körper horchte, als hörte sie etwas
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