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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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blicken, würde er von der Sonne geblendet und könnte so gut wie nichts erkennen. Aber hatte sie nicht andererseits erlebt, dass er zu Unmöglichem fähig war?
    Er nahm einen Umschlag aus der Tasche, kontrollierte, was immer sich darin befand. Sie neigte sich vor, um besser sehen zu können; doch er wandte sich um, stieg langsam die Treppe hinauf, an den Jungen vorbei, die auf der untersten Stufe saßen. Oben schob er den Umschlag unter den Blumentopf, so anmutig und rasch, dass selbst jemand direkt neben ihm es nicht bemerkt hätte. Sofort ging er die Treppe wieder hinunter und verschwand um die Ecke.
    War es das? War es wirklich so einfach gewesen?
    Sie lief auf den Gehweg hinunter, schaute nach rechts und links. War er zurückgekommen, um sie abzufangen? Nein, er war zu groß, zu auffällig, sie hätte ihn sofort gesehen. Sie bemühte sich, ruhig zu gehen, überquerte die Straße, stieg die Treppe hinauf und ignorierte die Jungen, die über ihren dicken Bauch kicherten. Sie beugte sich über den Blumentopf – längst nicht so schnell wie er, nicht in ihrem Zustand – und zog mit zitternden Händen den Umschlag hervor. Ein Bündel Fünf-Dollar-Scheine befand sich darin. Sie zählte: zwanzig. Es war alles da.
    Ihr Haus befand sich in derselben Straße, und während sie nach Hause ging, weinte sie ein bisschen vor Erschöpfung und Erleichterung. Seit Wochen schlief sie auf einer schmutzigen Pritsche in einem fensterlosen Zimmer mit fünf anderen Frauen, drei Jüdinnen und zwei Italienerinnen. Die Pritsche war so hart und wacklig, dass sie kaum schlafen konnte, und die anderen Frauen hassten sie, weil sie so oft aufstand, um auf die Toilette zu gehen. Für diese Luxusunterkunft zahlte sie der Vermieterin fünfzehn Cent pro Tag. Als sie heute Morgen erwacht war, hatte sie noch genau zwei Dollar besessen.
    Doch im Augenblick blieb ihr das neue Glück treu: Keine ihrer Mitbewohnerinnen war da. Sie konnte sich in Ruhe ein Versteck für das Geld überlegen. Und dann würde sie in das schicke Gasthaus in ihrer Straße gehen und sich einen Teller mit Huhn und gebackenen Kartoffeln leisten. Sie entzündete die Kerze, die in einer Teetasse neben der Tür stand, und begann nach einem guten Versteck zu suchen: eine Ritze zwischen den Bodendielen oder ein lockeres Stück Verputz.
    »Das würde ich nicht tun«, sagte eine Stimme in ihrem Rücken. »Zu leicht zu finden. Behalt es besser bei dir, wo du schon so hart dafür gearbeitet hast.«
    Er stand in der Tür und füllte sie aus. Zwei Schritte, und er war im Zimmer. Er schloss die Tür und verriegelte sie.
    Zu Tode erschrocken wich sie zurück und stieß mit der Schulter gegen die Wand. Die Kerze fiel aus der Tasse und rollte brennend über den Boden. Er beugte sich mit der ihm eigenen Eleganz hinunter, hob sie auf und betrachtete sie dann in ihrem Schein.
    »Setz dich, Anna«, sagte er.
    Sie glitt die Wand entlang und setzte sich auf eine Pritsche, die Arme schützend vor den Bauch gelegt. »Bitte, tu mir nichts«, flüsterte sie.
    Er warf ihr einen verächtlichen Blick zu, sagte jedoch nichts, sondern schaute sich nur in dem winzigen dunklen Zimmer um. Einen Augenblick schien er sich unwohl, ja in die Enge getrieben zu fühlen. »Ich will hier nicht länger bleiben als nötig«, sagte er. »Also reden wir.«
    Er setzte sich und stellte die Kerze zwischen sich und sie. Auch als er im Schneidersitz auf dem Boden saß, ragte er vor ihr auf wie ein Richter. Sie begann zu weinen. »Hör auf damit«, sagte er. »Wenn du den Nerv hast, mich zu erpressen und mir zu drohen, dann kannst du mir auch ins Gesicht sehen, ohne zu wimmern.«
    Sie riss sich mühsam zusammen und wischte sich übers Gesicht. Den Umschlag hielt sie noch immer fest. Wenn sie sich entschuldigte und ihn zurückgab, würde er vielleicht ein Nachsehen haben und gehen.
    Doch ihre Finger rebellierten und hielten ihn noch fester. Das Geld war ihre Zukunft. Er müsste es ihr mit Gewalt abnehmen.
    Im Augenblick zumindest schien er keine Gewalttätigkeiten zu planen. »Wie hast du mich gefunden?«, fragte er.
    »Deine Werkstatt«, sagte sie mit dünnem Stimmchen. »Ich bin nach Little Syria gegangen und herumgelaufen, bis ich deinen Namen auf dem Schild gesehen habe. Dann habe ich gewartet, bis du herausgekommen bist, um sicher zu sein, dass du es bist.«
    »Und du hast es niemandem erzählt? Du hast keine Komplizen?«
    Sie lachte mit zitternder Stimme auf. »Wer hätte mir geglaubt?«
    Das schien er zu akzeptieren.

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