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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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hat.«
    Saleh fielen ein paar andere Erklärungen für diese wundersame Heilung ein. Der Doktor hatte eine falsche Diagnose gestellt, oder das kalte Wasser hatte das Fieber gesenkt. Aber er sagte nichts.
    »Auch kinderlose Frauen pilgern dorthin«, sagte Maryam. »Manchmal denke ich … Aber ich will ihn nicht zweimal um Hilfe bitten. Das wäre gierig.«
    »Nein, das wäre es nicht«, sagte Saleh.
    »Nein? Warum nicht?«
    »Es ist seine Pflicht. Ein guter Heiler darf nicht wählerisch sein. Wenn er helfen kann, muss er helfen.«
    Nach einer Weile sagte Maryam nachdenklich: »Daran habe ich nicht gedacht. Ein guter Heiler. Ich wünschte, Nadias Arzt wäre ein solcher Heiler gewesen. Sie hätte eine Chance gehabt.«
    »Woran ist sie gestorben?«
    »Ich erinnere mich nicht an den Namen der Krankheit. Er war lang und lateinisch. Aber sie hatte immer wieder Schmerzen und Fieber und einen Ausschlag im Gesicht. Dr. Joubran hat sie gesehen und es sofort gewusst.«
    »Lupus erythematodes.«
    Er hatte es nicht sagen wollen. Die Worte waren in seinem Kopf aufgetaucht, und jetzt hing ihr Echo schwer in der Morgenluft. Er hätte alle Münzen in seiner Tasche und die Eismaschine gegeben, hätte er sie zurücknehmen können.
    Er spürte, wie sie ihn ansah, als sähe sie ihn zum ersten Mal. »Ja«, sagte sie bedächtig. »Das war es.«
    Er versuchte, ihren prüfenden Blick zu ignorieren. »Der Junge«, sagte er, um Fragen zuvorzukommen, »hat keinen Vater?«
    »Niemanden, der den Namen verdient. Er ist als Hausierer nach Westen gegangen und verschwunden.«
    »Wird ihn die Familie seiner Mutter aufnehmen?«
    »Vermutlich. Sie haben ihn nicht mehr gesehen, seit er ein Baby war. Vielleicht ist es grausam, dass er das einzige Zuhause verlassen muss, das er kennt. Aber wie soll er hierbleiben, ohne Familie?« Sie seufzte wieder. »Und in einem Dorf, einem ruhigeren Ort, wird es ihm vielleicht besser gehen als hier. Zumindest ist er dann weg von der Schmiede.«
    »Der Schmiede?«
    »Ich meine nicht Boutros. Er ist ein wunderbarer Mann, ich wünschte nur, er würde öfter mal aus der Werkstatt kommen und mit den Leuten
reden.
Nein, es ist sein Partner. Der Beduine.« Er spürte ihre plötzliche Anspannung. »Mahmoud, darf ich dir etwas sagen? Ich habe den Mann nie gemocht. Nie. Ich habe das Gefühl, dass er uns alle zum Narren hält und auslacht, sobald wir ihm den Rücken kehren. Aber ich kann dir beim besten Willen nicht erklären, warum.« Ihre Stimme klang hart, wie er sie nie zuvor bei ihr gehört hatte. »Aber Matthew liebt ihn, er würde den ganzen Tag dort verbringen, wenn Boutros ihn ließe.«
    »Nein.«
    »Wie bitte?«
    »Lass nicht zu, dass der Junge in die Werkstatt geht. Zu dem Beduinen.«
    »Warum nicht?« Sie stand jetzt näher bei ihm, neigte sich zu ihm; er wandte den Kopf ab, blickte auf das graue Straßenpflaster, den schwachen Schatten seines Wagens. »Mahmoud, weißt du etwas über ihn? Ist er gefährlich?«
    »Ich weiß gar nichts.« Er nahm den Griff des Wagens. »Aber ich mag ihn auch nicht. Guten Tag, Maryam.«
    »Guten Tag«, sagte sie leise. Und er schlurfte auf der Straße davon. Das Eis in seiner Maschine war längst geschmolzen.

    Anna Blumberg stand hinter einem Schornstein auf einem sengend heißen Dach, dort wo Hester Street und Chrystie Street sich kreuzen, und schaute hinunter auf das Gebäude gegenüber. Sie hatte den Ort mit Bedacht gewählt: Er war verkehrsreich, gut zu erreichen, und sie konnte die Treppe vor dem Haus genau sehen. Doch jetzt, schweißgebadet und eingehüllt in Teerpappedämpfe, begann sie ihre Entscheidung zu bereuen. Sie wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht und zwang sich, nicht zu würgen. Wenn alles nach Plan verlief – wenn er tatsächlich mit dem Geld kam –, dann wäre es die Tortur wert.
    Aber wenn nicht? Was würde sie
dann
tun?
    Sie schluckte Galle und Panik hinunter und spürte, wie sich das Baby in ihrem Bauch bewegte. War es nicht schon nach Mittag? Ihre Taschenuhr hatte sie längst versetzt, aber sie hatte auf die Uhr in der Apotheke geschaut –
    Da.
Ein großer Mann bahnte sich zielstrebig einen Weg durch die Menschenmenge. Sogar aus dieser Entfernung erkannte sie ihn sofort. Sie sah mit klopfendem Herzen zu, wie er vor der Treppe stehenblieb, sich umschaute, den Blick über die auf dem Gehsteig plaudernden Männer, den Verkehr und die Handwagen schweifen ließ. Sie widerstand dem Impuls, sich hinter den Schornstein zu ducken. Sollte er nach oben

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