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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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morgens, und schon drängten sich auf dem Gehweg vor Faddouls Kaffeehaus die Kunden. Das Wetter war tropisch warm und feucht. Die Männer an den Tischen wischten sich mit Taschentüchern über die Stirn und zerrten die Hemdkragen vom Hals.
    Mahmoud Saleh mischte Eier, Zucker und Milch in seiner Eismaschine. Dann tat er Eisstücke und Salz dazu, legte den Deckel darauf und drehte an der Kurbel, bis sich die Creme richtig anfühlte. Vor ihm wartete bereits eine ungeduldige Schlange von Kindern, die auf dem Weg in die Schule waren; sie hänselten sich gegenseitig und zogen an Zöpfen. Saleh löffelte Eis in die Blechschälchen, den Blick auf die Eismaschine gesenkt, bis ein raschelnder Rock in sein Sichtfeld geriet.
    »Guten Morgen, Mahmoud«, sagte Maryam.
    Er murmelte ein Hallo.
    »Es wird heiß heute«, sagte sie. »Und vielleicht wird es auch regnen. Komm rein, wenn du irgendwas brauchst.«
    Ihre Worte waren ihm vertraut; neu und überraschend jedoch war ihr erschöpfter, sogar niedergeschlagener Tonfall. Er erwiderte nichts, löffelte weiter Eis in Schalen, die er gegen von kleinen Fingern angewärmte Münzen tauschte.
    Weitere Schritte, noch ein Kind stellte sich an. Und jetzt verstummte das Gekicher, und das Gehänsel hörte auf. Ein Mädchen flüsterte ihrer Nachbarin etwas zu; jemand anders antwortete leise. Saleh hörte das Wort
Mutter
und das Wort
tot.
Derjenige, der für die Stille verantwortlich war, trat ganz nach vorn in der Schlange, und Saleh sah die kurze Hose und die blassen Knie eines Jungen. Saleh gab ihm ein Eis und erhielt dafür ein kaum hörbar gewispertes
Danke.
    Maryam sagte: »Einen Moment noch, Matthew.« Und dann leiser: »Willst du wirklich in die Schule gehen? Ich kann mitkommen und mit deiner Lehrerin sprechen …« Eine unhörbare Antwort, und dann Maryams Seufzer. »Na gut, aber bleib danach nicht zu lange weg. Wir essen um fünf. Dann reden wir weiter.« Eine Bewegung – vielleicht eine zaghafte Umarmung? –, und dann war der Junge fort, seine leisen Schritte im Lärm der Straßen untergegangen.
    Obwohl er zum ersten Mal seit langer Zeit neugierig geworden war, arbeitete Saleh weiter. Nur noch wenige Kinder waren übrig; die Schulschwänzer würden zu ihm kommen, wenn Maryam gegangen war. Als das letzte Kind sein Eis in der Hand hielt, stand Maryam noch immer neben ihm. Wahrscheinlich wollte sie reden.
    Schließlich sagte sie: »Der Junge macht mir große Sorgen.«
    Wie er sich gedacht hatte. »Wer ist er?«
    »Matthew Mounsef. Nadia Mounsefs Sohn. Sie ist letzte Nacht gestorben. Sayeed und ich nehmen ihn auf, bis wir die Familie seiner Mutter gefunden haben.«
    Er nickte. Bei jedem anderen hätte die Tatsache, dass eine maronitische Frau ein orthodoxes Kind aufnahm, für einen Skandal, ja für Aufruhr gesorgt. Aber nicht bei Maryam. Eines Tages würde er herausfinden, wie sie das schaffte.
    »Er hat geschlafen, als Nadia starb. Ich musste es ihm sagen.« Nach einer Pause fuhr sie zögernd fort: »Meinst du, dass er mich jetzt hasst?«
    Saleh erinnerte sich an die Mütter, die er hatte sterben sehen, und die Kinder, die ihn dafür gehasst hatten, dass er sie nicht hatte retten können. »Nein«, sagte Saleh. »Dich nicht.«
    »Ich bin kein Ersatz für Nadia, ich weiß. Ich dachte, er sollte heute nicht in die Schule gehen, aber ich weiß auch nicht. Und ich habe wenig Erfahrung mit Kindern«, sagte sie unsicher. Und nach einer Weile fügte sie hinzu: »Habe ich dir jemals erzählt, dass ich als Baby beinahe gestorben wäre?«
    Saleh schüttelte den Kopf.
    »Ich hatte schreckliches Fieber, und der Arzt hat gemeint, dass ich kaum eine Chance hätte. Er hat meiner Mutter geraten, mit mir zum Georgs-Heiligtum in Jounieh zu gehen.«
    Saleh runzelte die Stirn angesichts eines Arztes, der so etwas empfahl. »Ich weiß«, sagte Maryam, »aber sie war verzweifelt. Kennst du das Heiligtum?« Er schüttelte den Kopf. »Es ist eine Grotte oberhalb der Bucht von Jounieh. Wo der Heilige Georg seinen Speer gewaschen hat, nachdem er den Drachen getötet hatte. Sie ist mit mir in die Höhle gegangen, hat eine Kerze entzündet und mich in das Wasser getaucht. Es war Frühling, und das Wasser war eiskalt. Ich habe geschrien wie am Spieß. Und sie hat geweint, weil es meine ersten wirklichen Laute seit Tagen waren. Da hat sie gewusst, dass ich wieder gesund werden würde. Sie hat mir diese Geschichte immer wieder erzählt – dass der Heilige Georg ihre Gebete erhört und mir das Leben gerettet

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