Golem und Dschinn: Roman (German Edition)
alte Sägemehl aufzufegen und eine neue Schicht zu verstreuen, und Michael Levy, der versteckt im Schatten an einem kleinen Tisch saß.
Seit seiner Schulzeit hatte Michael nachmittags nicht mehr getrunken. Damals hatten die Ideen seiner Freunde nie richtiger und
nobler
geklungen als bei einem Glas Schnaps. Jetzt allerdings trank er nur, um betrunken zu werden. Vor ihm lagen die Notizen seines Onkels, daneben standen ein nicht allzu sauberes Glas und eine Flasche, deren Inhalt sich Whiskey nannte. Der Whiskey schmeckte nach faulen Äpfeln. Die Flasche war zu einem Drittel geleert.
Er trank einen weiteren Schluck, ohne wegen des Geschmacks noch das Gesicht zu verziehen. Er war hier, um zu entscheiden, was er mit den Papieren machen sollte. Die von seinem Onkel beschriebenen und datierten Seiten waren eine Bürde und eine Peinlichkeit. Es standen Dinge darauf, die einfach nicht wahr sein konnten. Und doch begann Michael, sie zu glauben.
Im Wohnheim hatte er gesagt, dass er sich krank fühle und nach Hause gehe. Sie hatten mitfühlende Laute von sich gegeben und ihm versichert, dass sie es bis zum nächsten Morgen auch ohne ihn schaffen würden. Vor allem Joseph Schall hatte darauf bestanden, dass er erst wiederkommen sollte, wenn er sich besser fühlte. Joseph war wirklich ein anständiger Kerl. Er erinnerte sich an die neugierigen Fragen seiner Frau und zuckte zusammen. Sie hatte sich angehört, als würde sie irgendeinen Verdacht gegen ihn hegen; aber was, wenn es umgekehrt wäre? War
ihm
etwas Seltsames an
ihr
aufgefallen?
O Gott, er würde wahnsinnig, wenn er so weitermachte.
Er setzte sich aufrecht hin und ignorierte die schwummrigen Empfindungen in seinem Kopf. Möglicherweise wäre es am besten, die ganze Sache als eine geistige Übung zu betrachten. Er würde nur für den Moment annehmen, dass sein Onkel nicht senil gewesen war und die Papiere nicht die phantastischen Hirngespinste eines abergläubischen Menschen enthielten. Seine eigene Frau war ein Golem aus Lehm mit den Kräften von einem Dutzend Männern. Sie kannte alle seine Ängste und Wünsche. Der tote Mann – der Mann, von dem sie nie sprach – war ihr Meister gewesen, der Mann, für den sie erschaffen worden war.
Angenommen, das alles entsprach der Wahrheit: Was sollte er dann tun? Sich von ihr scheiden lassen? Das örtliche Rabbinat informieren? Weitermachen, als wäre nichts geschehen?
Er blätterte zu der Seite, auf der sein Onkel den Satz vermerkt hatte, der ihn wie ein Faustschlag getroffen hatte:
Wird sie jemals wirklich lieben und glücklich sein können? Ich fange an, es wider besseres Wissen zu hoffen.
War das nicht der entscheidende Punkt der Angelegenheit? Konnte er mit einer Frau – gleichgültig ob aus Fleisch und Blut
oder
Lehm – verheiratet bleiben, die ihn nicht wirklich lieben konnte?
Er trank einen weiteren Schluck und dachte an ihre ersten Treffen, an das häufige schüchterne Lächeln und das gesellige Schweigen. Er hatte sie für dieses Schweigen ebenso geliebt wie für das, was sie gesagt hatte. Vor ihr hatte er nur Frauen gekannt, die glaubten, das Herz eines Intellektuellen durch übermäßiges Reden erobern zu können. Nicht so seine Frau. Er erinnerte sich an den schweigsamen Ausflug zum Grab seines Onkels. Sie hatte gerade so viel gesagt – sie schien ihn gerade so weit zu
verstehen
–, dass er sich an jede ihrer Silben geklammert und sie wie Juwelen behandelt hatte. Die Tatsache, dass sie genau das gesagt hatte, was er hören wollte, ließ ihre Bemerkungen nur umso kostbarer erscheinen. Und wenn sie nichts sagte, hatte er in ihr Schweigen eine verführerische Tiefe hineininterpretiert.
Ein dumpfer Schmerz begann hinter seiner Stirn zu pochen. Am liebsten hätte er gelacht, erstickte diesen Impuls jedoch mit einem weiteren Schluck Whiskey. War es denn wichtig, ob sie eine Frau oder ein Golem war? Wie auch immer, die nackte Wahrheit lautete unverändert: Er hatte keine Ahnung, wer seine Frau wirklich war.
Der Dschinn stand auf dem Dach seines Mietshauses und drehte und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Auf dem Heimweg von seiner Begegnung mit Anna hatte er sich nicht beruhigen können. Er erinnerte sich an die Nacht, als er aus Arbeelys Fenster gestarrt hatte und es nicht erwarten konnte, die Stadt zu erkunden. Er hätte in glückseliger Unwissenheit in der Werkstatt bleiben sollen. Er hätte in der Flasche bleiben sollen.
Sie ist verheiratet.
Na und? Sie hatte sich bereits aus seinem Leben
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