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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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zurückgezogen. Es änderte nichts. Warum also schien es ihm trotzdem wichtig?
    Seit Wochen versuchte er, sie in den hintersten Winkel seines Kopfes zu verbannen, nur damit sie wieder hervorkam, wenn er es am wenigsten wollte. Vielleicht ging er die Sache falsch an; nie zuvor hatte er versucht, jemanden zu vergessen. Aber es war auch nicht nötig gewesen. Bei den Dschinn verliefen Beziehungen ganz anders. Stelldicheins konnten ruhig oder stürmisch verlaufen, einen Tag, eine Stunde oder Jahre währen – und überlappten sich oftmals auf eine Weise, die die Bewohner von Little Syria für vollkommen unmoralisch gehalten hätten –, aber sie waren nie von Dauer. Ob aus Lust, Laune oder Langeweile eingegangen, irgendwann endete jede Romanze, und im Lauf der Jahre waren die Erinnerungen daran stets verblasst. Warum war es bei ihr nicht so, wo sie doch nur so wenig Zeit miteinander verbracht hatten? Ein paar Gespräche und Streitereien, weiter nichts – und sie war nie seine Geliebte gewesen! Und trotzdem weigerten sich die Erinnerungen stillzuhalten, zu verwittern und in die Ferne zu rücken, wie er es sich verzweifelt wünschte.
    Verheiratet. Mit Michael Levy. Sie hatte den Mann nicht einmal
gemocht.
    Er rollte noch eine Zigarette, berührte die Spitze und inhalierte. Die eiserne Schelle lugte unter seinem Ärmel hervor, schimmerte im matten Nachmittagslicht. Er betrachtete sie einen Moment lang, dann zog er vorsichtig den Zettel darunter hervor, den er aus ihrem Medaillon genommen hatte. Er faltete ihn einmal auseinander, sodass nur noch ein Knick die Worte vor ihm verbarg. Das Papier war dick und schwer, doch er sah die Schatten der Buchstaben auf der Rückseite. Er konnte es vollständig entfalten und lesen, was darauf stand. Er konnte es in den Rinnstein werfen. Er konnte es mit den Fingern verbrennen und die Asche im Wind verstreuen.
    Eine kleine Hand zog an seinem Hemd.
    Er fuhr erschrocken zusammen. Es war Matthew, der wie vom Himmel gefallen neben ihm stand. Wie machte der Junge das? Rasch faltete der Dschinn das Papier wieder zusammen und schob es unter die Schelle.
    »Vermutlich hat Arbeely dich geschickt«, sagte er. Es stimmte ihn traurig, den Jungen anzusehen. Die Ereignisse des Morgens hatten ihn die der vergangenen Nacht vergessen lassen, aber jetzt kehrten die Erinnerungen zurück – das winzige Wohnzimmer, Matthews Mutter, die auf der Couch nach Luft rang – und mit ihr eine dunkle, unangenehme Scham.
    Der Junge schüttelte heftig den Kopf und zog wieder am Hemd des Dschinns. Verwirrt beugte sich der Dschinn zu ihm hinunter und hörte ein leises dringliches Flüstern.
    »Bring sie zurück!«
    Verdutzt starrte der Dschinn ihn an. Sie zurückbringen? Die Frau war tot!
    »Wer hat dir erzählt, dass ich so etwas kann?«, fragte er. Doch der Junge schwieg und ließ seine eigensinnig hoffnungsvolle Miene für sich sprechen.
    Langsam dämmerte es dem Dschinn. War das der Grund, warum Matthew seit Monaten nicht mehr von seiner Seite wich? Nicht weil er ihn mochte, bewunderte oder etwas von ihm lernen wollte? Der Junge war zu ihm gekommen statt zu Maryam oder Dr. Joubran – zu jemandem, irgendjemandem, der ihm wirklich hätte helfen können –, nur weil er geglaubt hatte, der Dschinn könnte seine sterbende Mutter heilen, so mühelos wie er ein Loch in einem Teekessel flickte!
    Aller Ärger und die vielen Enttäuschungen verschmolzen jetzt zu einem harten, unnachgiebigen Kern in ihm. Er ging in die Hocke und fasste den Jungen bei den Schultern.
    »Ich will dir von den Seelen erzählen«, sagte er, »die nach dem Tod weiterleben oder gegen ihren Willen zurückgeholt werden. Und es ist die Wahrheit, nicht irgendeine Geschichte, die man kleinen Kindern erzählt. Hast du schon mal einen Schatten gesehen, der über die Erde zieht, so wie der Schatten einer Wolke? Nur dass am Himmel keine Wolke ist, wenn du hinaufschaust?«
    Zögernd nickte Matthew.
    »Das ist ein Totengeist«, sagte der Dschinn. »Eine verlorene Seele. In der Wüste gibt es Totengeister von allen möglichen Geschöpfen. Sie fliegen in großer Not von hier nach da und sind ständig auf der Suche. Kannst du dir denken, wonach sie suchen?«
    Matthew war blass geworden und stand reglos da. Er schüttelte den Kopf.
    »Sie suchen nach ihren Körpern. Und wenn sie ihn finden – falls sie ihn finden, falls ihre Knochen nicht längst zu Staub zerfallen sind –, setzen sie sich davor und weinen und geben die allerschrecklichsten Laute von

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