Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
Vom Netzwerk:
Viertel. Er war diese Straße Dutzende Male gegangen – doch jetzt glühte die Straßenecke in seinem Kopf, strahlte unwiderstehliche Anziehungskraft aus. Seine wandernde Beute war hier vor kurzem vorbeigekommen, möglicherweise erst heute.
    Am liebsten hätte er auf der Straße getanzt, aber er zwang sich, ruhig zu bleiben. Er drehte sich langsam im Kreis. Da: das Gebäude an der südwestlichen Ecke, das war es. Die Treppe davor und seltsamerweise der schlecht gepflegte Blumentopf neben der Tür leuchteten interessant. Doch hier endete die Spur. Die Tür sah ganz normal aus. Seine Beute war demnach die Treppe hinaufgegangen, vielleicht um sich mit jemandem zu unterhalten oder um nachzusehen, ob jemand zu Hause war, und dann war sie umgekehrt. Und wohin war sie gegangen?
    Er stieg die Treppe wieder hinunter, ließ sich von seinen Füßen leiten. Nachdem er einen halben Block die Straße entlanggegangen war, kam er zu einem schäbigen Gebäude – und hier hörte die Spur nicht an der Tür auf. Leise betrat er das Haus, seine Schuhe rutschten auf den schmutzigen Fliesen. Die Spur führte ihn eine dunkle, tückische Stiege hinauf bis zu einem nach Kohl riechenden Flur und schließlich zu einer Wohnungstür. Er drückte das Ohr an das Holz und hörte nichts außer leisen Atemzügen.
    Während er dastand und überlegte, ob er klopfen sollte, kam jemand aus der Toilette im Flur. Er wich ein paar Schritte zurück und sah zu, wie eine schwangere Frau in einem weißen Nachthemd verschlafen zu der Wohnungstür wankte, auf die er aufmerksam geworden war. Die Anziehungskraft, die sie auf ihn ausübte, war so stark, dass er den Blick nicht von ihr wenden konnte. »Entschuldigen Sie«, sagte er.
    Er hatte leise gesprochen, dennoch erschrak sie. »Um Gottes willen«, keuchte sie und legte eine Hand auf den geblähten Bauch.
    »Vielleicht können Sie mir helfen, ich suche nach einer Freundin.« Er dachte kurz nach und nannte auf gut Glück den Namen. »Chava Levy?«
    Die Frau schien zurückzuweichen. »Ich habe sie seit Monaten nicht mehr gesehen«, sagte sie mit einer Stimme, die Angst und Argwohn verriet. »Warum suchen Sie hier nach ihr?«
    »Ein gemeinsamer Freund hat mir gesagt, dass sie hier gewesen sein könnte.«
    »Ahmad? Hat er Sie hergeschickt?«
    Er nahm den Hinweis auf. »Ja, Ahmad hat mich geschickt.«
    Sie schaute ihn böse an. »Das hätten Sie gleich sagen können. Richten Sie ihm aus, dass er sein Geld auch nicht schneller kriegt, wenn er mich verfolgt. Und
Sie
, alter Mann, sollten sich was schämen! Eine schwangere Frau im Dunkeln zu erschrecken!«
    Ihre Tirade wurde lauter. Bald würde jemand sie hören und nachsehen. Die Zeit für Höflichkeiten war vorbei. Er griff nach ihrem Handgelenk, wie er es auch bei den Rabbis getan hatte. Einen Augenblick lang wollte sie sich ihm entwinden, dann hielt sie still.
    Wer ist Ahmad?
, fragte er.
    Und noch bevor sie antworten konnte, hatte er eine Vision: Ein blendendes Licht, eine gigantische einzelne Flamme, die brannte wie das Inferno.
    Er ließ ihr Handgelenk los und taumelte zurück, rieb sich die geblendeten Augen. Als er wieder sehen konnte, betrachtete sie ihn argwöhnisch und hatte vergessen, was passiert war. »Alles in Ordnung?«, fragte sie.
    Er drängte sich an ihr vorbei zur Treppe und flüchtete in die Dunkelheit.
    Auf der Straße blieb er stehen und atmete tief die feuchte Luft ein. Was war das in ihrem Kopf? Eine Flamme, die brannte wie die Feuer der Gehenna, eine Flamme, die irgendwie lebendig war – aber sie hatte von einem Ahmad gesprochen, als wäre es ein Mann. Wie war das zu verstehen? War hier eine andere Kraft am Werk, die jenseits von seinem beträchtlichen Verständnis lag?
    Ahmad.
Er wusste nicht einmal genau, was das für ein Name war.

    Im Gescheckten Hund veranstalteten die ungebärdigen abendlichen Gäste einen Mordskrach. Drei von ihnen waren bereits wegen Handgreiflichkeiten hinausgeworfen worden. Doch Michael wurde an seinem Tisch in der Ecke rundweg ignoriert. Er fragte sich, wofür die Stammgäste, die muskelbepackten Fabrikarbeiter und Schauermänner, ihn hielten. Für einen feigen Pantoffelhelden und Bürokraten, der sich nicht nach Hause traute? Was mehr oder weniger der Wahrheit entsprach.
    Er blätterte wieder in den Notizen seines Onkels, sein Blick schweifte über die Formeln und Schaubilder. Um halb acht hatte er seiner Frau die Nachricht überbringen lassen; jetzt war es kurz nach elf. Er hatte das Glas beiseitegeschoben

Weitere Kostenlose Bücher