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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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Docks am Hudson River legte Yehudah Schaalman den grauhaarigen Kopf in den Nacken und starrte verblüfft auf die wellige Deckenverkleidung aus Blech.
    Er war vielleicht eine halbe Meile Luftlinie von der Hester Street entfernt, hatte dafür jedoch fast eine Stunde gebraucht. Der Weg war gewunden und voller Abzweigungen gewesen, hatte durch Seitenstraßen und über Feuerleitern auf bevölkerte Dächer, über Bretterstege und wieder hinunter geführt. Schließlich war er in der Washington Street gelandet, wo er die Qual der Wahl hatte. Die Spuren waren übereinander gelagert, sodass jeder Laden, jede Seitenstraße von Interesse war. Er war die Straße auf und ab gegangen, hatte sich orientiert, bis ihn schließlich die stärkste Spur in ein Gebäude mit einem gut beleuchteten Eingang führte. Im Inneren hatten ihn der Zauber und die Lichter veranlasst, nach oben zu blicken.
    Er hätte nicht sagen können, wie lange er unter den glänzenden Wellen und Gipfeln stand und sich mit einer Hand an der Wand abstützte. Anfänglich hielt er es für einen interessanten Defekt des Hauses – vielleicht war das Blech an der Decke geschmolzen und hatte Tropfen gebildet –, bevor ihm klar wurde, dass es ein Kunstwerk war.
    Wie für so viele andere Betrachter kristallisierte sich aus der Decke urplötzlich ein Bild heraus. Die Welt drehte sich –
    Der Abend dämmerte, und er stand auf einer versengten Ebene, umgeben von fernen Berggipfeln. Die Sonne im Westen streckte seinen Schatten, bis er schmal wie ein Speer war, verwandelte seine Arme in knorrige Äste und seine Finger in Zweige. Vor ihm lag das spätsommerliche Tal, in dem die Tiere erwachten. Er blinzelte – und dort in dem leeren Tal tauchte ein wunderschöner Palast aus Glas auf, seine Türme und Wehre funkelten in den letzten goldenen Strahlen des Abends.
    Etwas Hartes, Flaches schlug Schaalman ins Gesicht. Es war der Fußboden der Eingangshalle.
    Er lag da, die Bodenfliese kühl unter seiner brennenden Backe, und rang um Fassung. Vorsichtig kam er auf Hände und Knie; der Raum blieb dankenswerterweise, wo er war. Er stand auf, schirmte die Augen mit der Hand ab, ging hinaus und setzte sich auf die Treppe vor dem Haus, eine Hand auf der pochenden Wange. Die Angst, die er zuvor empfunden hatte, im Flur mit der schwangeren Frau, flammte wieder auf und wurde größer. Ein weiteres Phänomen, das er sich nicht erklären konnte.
    Er kämpfte gegen die Furcht und den Drang an, ins Wohnheim zurückzukehren. Er fühlte sich verletzlich, ungeschützt. Wer war seine Beute? War es dieser geheimnisvolle Ahmad? Oder der Todesengel, der mit ihm spielte?
    Der Schmerz in seiner geschwollenen Backe ließ nach. Er zwang sich, aufzustehen und weiter die Straße entlangzugehen. Die Spuren tanzten und verwoben sich vor ihm miteinander und führten ihn, zu was immer ihn als nächstes erwartete.

    Kurz nach ein Uhr morgens gab der Golem die Nähversuche auf. Die vielen Ablenkungen machten sie ungeschickt, und in der Bluse, die sie flickte, hatte sich ein neuer Riss aufgetan. Die wenigen wachen Menschen, die unter ihrem Fenster vorbeigingen, waren entweder betrunken oder mussten dringend auf die Toilette; sie verstärkten ihre Ruhelosigkeit und Anspannung.
    Michaels Nachricht lag auf dem Tisch. Sie hatte das Papier ärgerlich zerknüllt. Der Wortlaut sah ihm so gar nicht ähnlich, er war viel zu formell. Seine üblichen Zärtlichkeiten fehlten. War da etwas, was er ihr verschwieg? Sie dachte an ihr Gespräch über Joseph Schall. War Michael irgendwie mit ihm in Konflikt geraten? Oh, wie sie knappe Worte auf Papier hasste! Wie sollte sie die Wahrheit erfahren, wenn er nicht da war?
    Es gab nur eine Möglichkeit, sich zu beruhigen: Sie musste ins Wohnheim gehen. Vielleicht würde er sie dafür tadeln, dass sie nachts allein unterwegs war, aber sie würde erklären, dass sie zu besorgt gewesen sei, um schlafen zu können. Sie warf sich ihren Umhang um und brach auf, schritt rasch durch die Straßen, auf denen sie nur vereinzelten anonymen Fußgängern begegnete, alle auf der Suche nach der einen oder anderen Art von Erleichterung.
    Von außen war das Wohnheim dunkel und still. Einen Augenblick lang blieb sie auf dem Gehweg stehen und horchte. Ein paar Männer schliefen nur leicht, der Rest war in einem Meer aus Träumen versunken, verzerrte Spiegelbilder ihrer Sehnsüchte und Ängste. Sie öffnete langsam die Tür, hob sie etwas an, damit sie nicht quietschte.
    In Michaels Büro brannte Licht.

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