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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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Sie schlich den Flur entlang und schaute durch die halb offene Tür. Er war am Schreibtisch eingeschlafen und auf seinem Stuhl nach vorn gesunken. Sein Kopf lag in der Ellbogenbeuge, daneben ein aufgeschlagenes Buch. Hätten sich seine Schultern nicht leise gehoben und gesenkt, hätte man ihn für tot halten können. Sie trat näher und ging neben ihm in die Hocke. Warum roch er so stark nach Alkohol? »Michael«, flüsterte sie. »Michael, wach auf.«
    Eine Hand griff nach Luft. Er stöhnte und richtete sich auf. »Chava«, sagte er noch halb im Schlaf.
    Dann erstarrte er. Schlug die Augen auf, schaute sich suchend um und fixierte sie.
    Er erschrak wie ein in die Enge getriebenes Tier, und sein Entsetzen traf sie mit voller Wucht in die Brust.
    Er sprang vom Tisch auf, verstreute Bücher und Papiere und wich taumelnd zurück. In seinen Gedanken sah sie ein groteskes Bild: eine riesengroße Frau mit einem schwerfälligen Körper, einem dunklen, groben Gesicht und einem eiskalten Blick. Sie selbst im Spiegel seiner Angst.
    O Gott – was war passiert? Sie streckte die Hand nach ihm aus, und er sprang zurück und wäre beinahe gestürzt. »Rühr mich nicht an«, zischte er.
    »Michael«, sagte sie, doch sie konnte nicht weitersprechen. So viele Male hatte sie sich diese Szene vorgestellt, die Aufdeckung ihres Geheimnisses; und jetzt musste sie feststellen, dass ihr keine ihrer ausführlichen Erklärungen, keine aufrichtige Entschuldigung einfiel. Sie empfand nur Entsetzen und Trauer.
    »Sag mir, dass ich es mir nur einbilde«, flehte er nun. »Sag mir, dass ich verrückt geworden bin!«
    Nein. Das konnte sie nicht. Sie war es ihm schuldig. Doch ebenso wenig brachte sie es über sich, die Wahrheit laut auszusprechen. Sie suchte nach angemessenen Worten. »Ich wollte dir nicht wehtun«, sagte sie. »Niemals.«
    Aufwallender Zorn drängte Michaels Ängste in den Hintergrund. Sie sah, wie sich seine Miene verhärtete, seine Hände sich zu Fäusten ballten.
    Sie schwebte natürlich nicht in Gefahr; er war betrunken und hatte keine Erfahrung mit Gewalttätigkeit. Dennoch reagierten ihre Sinne. Die Wirklichkeit wurde zu einer schrecklichen Stille. Sie hatte nur für ein Wort Zeit, das sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervorstieß.
    »Lauf.«
    Neuer Schrecken durchfuhr ihn – und dann tat er, was sie gesagt hatte, und seine Schritte entfernten sich auf dem Flur. Die schwere Haustür fiel ins Schloss.
    Sie stand zitternd in Michaels Büro, während langsam ihre Selbstbeherrschung zurückkehrte. Sie hatte sich immer gefragt, ob sie sich erleichtert fühlen würde, wenn die Wahrheit ans Licht käme; doch sie hätte lieber ewig mit der Anstrengung gelebt, sie zu verbergen, als mitansehen zu müssen, wie Michael vor ihr davonlief. Vermutlich sollte sie sich Sorgen machen, ob er jemandem davon erzählen würde, doch im Augenblick war es ihr gleichgültig. Sollte der Mob sie zerstören, wenn ihm danach war. Das würde ihr zumindest weitere Qualen ersparen.
    Sie schaute sich in dem Chaos um, das sie verursacht hatte. Der Stuhl war umgefallen, auf dem Boden lagen Papiere verstreut. Benommen schob sie den Stuhl an seinen Platz und räumte auf. Sie hob das Buch auf, das neben seinem Ellbogen gelegen hatte, lose Blätter fielen heraus und auf den Schreibtisch.
    Um einen Dämonen herbeizurufen, ist es unabdingbar, seine Abstammung zu kennen …
    Der Buchstabe
chet
ist der mächtigste Buchstabe des Alphabets und wird oft falsch gebraucht …
    Sie runzelte die Stirn. Was war das für ein Buch?
    Sie blätterte in den Seiten, überflog die vielen akribischen Anweisungen und verzweigten Schaubilder. Sie vermutete, dass es sich um eine Art Kochbuch mit Listen von Zutaten, präzisen Anleitungen, Warnungen vor Ungeschicklichkeiten und Vorschlägen zu Abwandlungen handelte. Nur dass der Leser kein Huhn braten und keinen Gewürzkuchen backen, sondern das Unmögliche bewerkstelligen und die Schöpfung selbst verändern sollte. Was hatte Michael mit diesem Buch zu schaffen? Hatte der Rabbi es ihm gegeben?
    Sie sah, dass eine Seite am Rand mit Erde verschmiert war. Sie las sie – und dann noch einmal und noch einmal. Benommen und zitternd drehte sie das Blatt um und las, was auf der Rückseite geschrieben stand.
    Gehorsam, Neugier, Intelligenz, tugendsames und anständiges Verhalten.
    Sie wird ihm eine bewundernswerte Ehefrau sein, wenn sie ihn nicht zuvor umbringt.
    Vor ihrem geistigen Auge sah sie Joseph Schall, der eine Schachtel mit

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