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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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sich. Möchtest du wissen, was sie dann tun?«
    Die vor Schrecken weit aufgerissenen Augen des Jungen füllten sich mit Tränen. Der Dschinn spürte die ersten Gewissensbisse, sprach aber weiter: »Sie gehen zu ihren nächsten Verwandten und flehen sie an, bitten sie inständig, ihnen dabei zu helfen, Ruhe zu finden. Doch alles, was ihre Verwandten hören, ist ein Klagelaut wie das Heulen des Winds. Und alles, was sie fühlen, ist die Kälte des Todes.« Der Dschinn packte den Jungen fester an den Schultern. »Möchtest du, dass es deiner eigenen Mutter so ergeht? Möchtest du, dass ihre Seele durch die Washington Street irrt? Willst du hören, wie sie wie ein Sturm heult? Auf der Suche nach ihren Knochen, die in der Erde verwesen? Auf der Suche nach
dir

    Der Junge schnappte keuchend nach Luft, riss sich von ihm los und lief davon.
    Der Dschinn sah Matthew nach, der über das Dach rannte und die Feuerleiter hinunterstürmte. Der Junge würde jetzt zu jemand anderem gehen, zu Maryam oder Arbeely, dem Priester oder einer Nachbarin. Sie würden ihn trösten und seine Tränen trocknen. Das nächste Mal, wenn er Hilfe brauchte, würde er sich an sie wenden und nicht mehr zu ihm kommen.
    Allein rauchte er seine letzte Zigarette und ließ sie zwischen seinen Lippen zu Asche zerfallen.
     
    Die Stimmung in der Schmiede war düster. Maryam war kurz vorbeigekommen, während Ahmad nicht da war, um Arbeely die traurige Nachricht von Nadias Tod zu überbringen – dessen Zeuge der Dschinn gewesen war.
    »Er war heute hier«, sagte Arbeely verwirrt. »Aber er hat nichts davon gesagt.«
    »Boutros, es geht mich nichts an, mit wem du zusammenarbeitest … aber ist er nicht etwas
seltsam

    Seltsamer, als du dir vorstellen kannst
, dachte Arbeely. »Ich weiß, dass er schwierig sein kann – und in letzter Zeit ist er immer schlecht gelaunt –«
    »Nein, das ist es nicht.« Sie zögerte, als würde sie ihre Worte abwägen. »In Nadias Wohnung – es war, als hätte er noch nie zuvor jemanden gesehen, der krank ist. Er hatte keine Ahnung, was er tun sollte. Er trug sie in den Armen und hat mich angeschaut, und einen Augenblick lang – Boutros, einen Augenblick lang habe ich geglaubt, er wäre kein Mensch.« Sie blickte ihn flehentlich an. »Klingt das verrückt? Verstehst du, was ich meine?«
    »Ich glaube, ich weiß, was du meinst«, sagte er.
    Dann war Maryam gegangen, und Ahmad war zurückgekehrt von wo auch immer er gewesen war – dennoch hatte er nichts über Nadia gesagt. Arbeely sah ihn jetzt an, wie er in der beengten Werkstatt saß, und fragte sich, was aus ihrer Freundschaft geworden war. Vielleicht war es einfach eine zu unnatürliche Beziehung, als dass sie Bestand haben könnte. War das nicht die Moral der Geschichten, die ihm seine Mutter und seine Tanten erzählt hatten? Dass die Dschinn allein leben sollten, weit weg von Fleisch und Blut? Er hatte sich von der menschlichen Maske des Dschinns blenden lassen und vergessen, dass sich darunter ein ganz und gar anderes Wesen verbarg.
    Plötzlich wurde die Tür aufgerissen. Es war erneut Maryam, und sie war völlig außer sich. Nachdem sie ihr Leben lang Mitgefühl und Verständnis für jede Menschenseele, die ihr über den Weg gelaufen war, aufgebracht hatte, sah die Frau jetzt so wütend aus, als ob sie zur Mörderin werden könnte.
    »Sie!« Sie deutete auf Ahmad. »Erklären Sie sich!«
    Der Dschinn stand von seiner Bank auf, blickte zuerst überrascht drein, dann kühl und misstrauisch. »Und was soll ich erklären?«
    »Warum Matthew Mounsef sich jetzt in meiner Vorratskammer versteckt, weint, zittert und Todesangst hat!«
    Arbeely tat das Herz weh, als er das hörte. Er meinte, auch Ahmad zusammenzucken zu sehen. Aber dann sagte der Dschinn: »Warum sollte ich daran schuld sein? Ist nicht die Mutter des Jungen gerade gestorben? Ich glaube, Sie waren dabei, als es passiert ist.«
    Maryam schnappte nach Luft, als hätte man sie ins Gesicht geschlagen. »Ich weiß nicht, wer Sie sind«, sagte sie, und ihre Stimme klang wie Eissplitter. »Jedenfalls nicht, wer Sie zu sein behaupten, so viel steht fest. Sie haben Boutros für sich eingenommen, weil er viel zu vertrauensselig ist, und Sie haben die ganze Straße hinters Licht geführt. Aber nicht Mahmoud Saleh und mich auch nicht. Sie sind gefährlich. Sie gehören nicht hierher. Ich weiß es seit langem und habe nichts gesagt, aber von jetzt an werde ich nicht mehr schweigen. Niemand, der einem

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