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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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und trank den gepanschten Whiskey nunmehr direkt aus der Flasche. Seine Vernunft beharrte noch darauf, dass die Notizen Wahnvorstellungen waren, ein Produkt von Alter und Aberglauben – doch die Festungsmauern der Vernunft begannen einzustürzen.
    Er trank einen letzten Schluck, nahm die Papiere, torkelte auf die Straße und übergab sich. Danach fühlte er sich auch nicht besser. Er schwankte durch die Straßen zurück ins Wohnheim. Alles war dunkel und still; das Licht war bereits gelöscht. In seinem Büro riss er eine übervolle Schreibtischschublade auf und stopfte die Papiere hinein.
Wie man einen Golem an einen neuen Meister bindet
, stand auf der obersten Seite. Er verzog das Gesicht und knallte die Schublade zu.
    Das Zimmer drehte sich. Wohin sollte er gehen? In seinem Leben gab es keine anderen Orte als das Wohnheim und sein jetzt zweifelhaftes Zuhause. Und was war mit Freunden? Er hatte sie alle vernachlässigt, sich in einem Nebel aus Arbeit und Erschöpfung von ihnen entfernt. Es gab niemanden, dem er sich aufdrängen konnte, um zu reden oder zu übernachten. Er brauchte jemanden, der willens war, zuzuhören, ohne ein Urteil zu fällen, der bei klarem Verstand und mitfühlend war.
    Joseph. Er konnte mit Joseph sprechen, oder? Der Mann war heutzutage praktisch sein einziger Freund. Obwohl er betrunken war, wusste Michael, dass es völlig inakzeptabel war, einen Angestellten mitten in der Nacht zu wecken, um ihm das Herz auszuschütten. Dennoch stieg er die Treppe zu Josephs Schlafsaal hinauf.
    Josephs Bett war leer.
    Er stand ruhelos in der Dunkelheit und fühlte sich auf obskure Weise hintergangen. Was hatte Joseph um diese Uhrzeit andernorts zu schaffen? Er setzte sich auf die mondbeschienene Pritsche. Vielleicht war Joseph spazieren gegangen, um vor der Hitze im Schlafsaal zu flüchten. Doch leise begann Argwohn an ihm zu nagen. Er dachte daran, wie sich seine Frau nach Joseph erkundigt hatte, und an die mickrigen Informationen, die er ihr hatte geben können. Warum hatte sie sich so für ihn interessiert?
    Nie zuvor war er in die Privatsphäre eines seiner Gäste eingedrungen. Um ihn herum lagen Männer, die womöglich erwachen und ihn beobachten könnten. Trotzdem schaute er nach, was sich unter Jospehs Bett befand, ohne die Tür zum Schlafsaal aus dem Auge zu lassen. Seine Hand ertastete den Griff einer altmodischen Teppichtasche. Er zog sie hervor und zuckte zusammen, als sie ein kratzendes Geräusch von sich gab. Sie roch alt und muffig, als hätte sie seit Generationen unter zahllosen Pritschen gelegen. Er öffnete den quietschenden Verschluss. Darin befanden sich ein paar ordentlich gefaltete Kleidungsstücke und ein altes Gebetbuch. Das war alles. Keine Fotos von Verwandten, keine Erinnerungsstücke oder Krimskrams von zu Hause. War das alles, was Joseph auf dieser Welt besaß? Selbst hier im Wohnheim waren das magere Habseligkeiten. Michael hätte vielleicht Mitleid empfunden, doch Josephs Abwesenheit verlieh der Tatsache, dass er so wenig besaß, etwas Finsteres – als würde der Mann nicht wirklich existieren.
    Er wusste, dass er die Tasche zurückstellen und gehen sollte, aber der Whiskey und seine Stimmung hielten ihn davon ab. Er nahm das Gebetbuch aus der Tasche und begann darin zu blättern, als könnte es ihm weitere Hinweise auf seinen Besitzer liefern. Der Mond schien darauf; und in seinem Licht veränderte sich das gewöhnliche Gebetbuch, wurde zu verbrannten Fetzen.
    Was er für Gebete gehalten hatte, waren Zaubersprüche und Beschwörungsformeln. Immer ungläubiger blätterte er die Seiten um. Er war zu Joseph gekommen, um sich beruhigen zu lassen, und jetzt das? Sein Onkel, seine Frau und nun auch noch Joseph – es war, als hätten sie sich gegen ihn verschworen und ließen ihn an allem zweifeln, was er für wahr gehalten hatte.
    Eine Seite war mit etwas vollgekritzelt, das eher aussah wie Erde als wie Tinte. Die schludrige Handschrift erkannte er als Josephs.
    Rotfeld wünscht sich bei einer Frau Gehorsam, Neugier, Intelligenz, tugendsames und anständiges Verhalten.
    Gehorsam ist selbstverständlich. Intelligenz am schwierigsten. Neugier am gefährlichsten – aber das ist Rotfelds Problem, nicht meins.
    Und dann weiter unten:
    Sie ist fertig. Ein exzellentes Geschöpf. Morgen sticht Rotfelds Schiff nach New York in See.
    Sie wird ihm eine bewundernswerte Ehefrau sein, wenn sie ihn nicht zuvor umbringt.

Kapitel  24
    I n einem ansonsten unauffälligen Mietshaus nahe den

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