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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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auf Kehrtwenden noch Feuerleitern, die auf Dächer führten, noch auf zeitintensive Umwege. Seine Beute schien sich pfeilgerade in die Bowery aufgemacht zu haben.
    Und was für eine Beute! Ein Mann namens Ahmad mit einem Gesicht, das so hell leuchtete wie eine Gaslampe. Was war er? Ein Dämon? Ein Opfer, das ebenso besessen war wie Saleh – oder vielleicht der Verursacher der Besessenheit?
    In Schaalman kämpfte die Aufregung gegen die Erschöpfung, die ihn daran erinnerte, dass er in jeder anderen Nacht mittlerweile im Wohnheim läge und sich die dringend benötigten Stunden Schlaf gönnte. Aber wie konnte er jetzt aufhören und die Spur erkalten lassen? Er ignorierte seine müden, brennenden Füße und beschleunigte den Schritt.
    Er bog auf die Bowery Street und fand sie trotz der späten Stunde von zahllosen Männern bevölkert vor. Die Spur war jetzt so stark, dass sie in alle Richtungen gleichzeitig zu führen schien. Er schaute in die Menge, plötzlich von Panik überwältigt: Was, wenn sie aneinander vorbeigingen, ohne dass Schaalman es merkte?
    Vor einem Laden hing ein ihm vertrautes Schild. Er las den Namen
Conroy
, sah die Sonnen und Monde darauf. Er blieb auf der Schwelle stehen und spähte hinein. Nein, seine Beute war nicht hier gewesen; im Inneren befanden sich nur ein paar Männer, die Tabak kauften, und der bebrillte Hehler. Er wandte sich ab, um seine Suche fortzusetzen, bevor Conroy ihn bemerkte. Und stieß beinahe mit einem großen, gut aussehenden Mann mit einem hell glühenden Gesicht zusammen.
     
    »Entschuldigung«, sagte der Dschinn und ging um den alten Mann mit dem schlaffen Mund herum, der wie angewurzelt auf dem Gehweg stand. Er öffnete die Tür zu Conroy, und die kleine Glocke darüber bimmelte. Hinter dem Ladentisch lächelte ihn Conroy höflich an und warf einen bedeutungsvollen Blick auf die anderen Kunden, bevor er sich wieder seiner zerfledderten Zeitung zuwandte. Der Dschinn studierte das Regal mit Tabak. Es wäre keine Herausforderung zu warten, bis Conroy zusperrte, und dann das Schloss aufzubrechen; viel spannender war es, den Mann zu bestehlen, während er zusah. Er wollte ein kleines Stück Silber kaufen und dann das bislang abgelehnte Angebot des Hehlers annehmen und in den ersten Stock hinaufgehen. Er hatte das Kommen und Gehen im Laden oft genug beobachtet, um zu wissen, dass es zahlreiche Ausgänge vom Bordell zum Erdgeschoss und auf die Seitenstraße hinaus gab, in der für gewöhnlich Conroys Männer herumstanden. Er würde sich oben aufhalten – und wenn er sich dafür an der weiblichen Gesellschaft schadlos halten müsste, dann würde er es eben ertragen – und warten, bis sich Conroy für die Nacht zurückgezogen hatte. Wenn er vorsichtig vorging, könnte er den Schlägern ziemlich einfach ausweichen. Vielleicht sollte er für ein bisschen Unruhe sorgen …
    Wieder klingelte die Glocke über der Tür. Es war der alte Mann von der Straße, der fast mit ihm zusammengestoßen wäre. Der Mann starrte ihn intensiv an.
    Der Dschinn runzelte die Stirn. »Ja?«
    »Ahmad?«, sagte der Mann.
    Der Dschinn fluchte lautlos. Die anderen Kunden hatten gezahlt und verließen den kleinen Laden; der Dschinn müsste jetzt warten, bis dieser Mann, der seinen Namen wusste, auch gegangen wäre. »Kenne ich Sie?«, fragte er auf Englisch, aber der Mann schüttelte den Kopf – es war keine Antwort, vielmehr eine Aufforderung, nicht zu sprechen, als würde der Dschinn den Augenblick zerstören.
    Conroy wechselte einen Blick mit dem Dschinn, faltete die Zeitung zusammen und fragte: »Kann ich Ihnen helfen?«
    Der alte Mann winkte ab, als wäre Conroy eine lästige Fliege. Dann lächelte er den Dschinn an; und es war ein gerissenes wie auch triumphierendes Lächeln, das Lächeln eines Kobolds, der ein Geheimnis zu erzählen hat. Er hob die Hand und bedeutete ihm mit zwei Fingern, näher zu treten.
    Der Dschinn, der sich wider Willen für den Mann zu interessieren begann, machte einen Schritt auf ihn zu. Und in diesem Augenblick begann er es zu spüren: ein Prickeln auf der Rückseite seiner Arme und in seinem Nacken. In seinem Kopf setzte ein seltsames Summen ein. Eine Hand begann zu zittern. Es war die Schelle. Sie
vibrierte.
    Er blieb stehen. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht.
    Der Mann streckte eine klauenartige Hand aus und packte den Dschinn am Handgelenk.
     
    Was William Conroy in dem Moment sah, bevor jede Glasscheibe in seinem Laden zerbrach, darunter die Gläser

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