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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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haben, und das ist das Einzige, was zählt, nicht wahr?
    Genau. Jetzt verschwinde und spuke in einem anderen Kopf herum.
    Die blinde, hektische Energie, die er verspürt hatte, nachdem er Arbeely verlassen hatte, kehrte zurück. Er überließ sich ihr nur allzu freudig. Wenn er wartete und die Idee durchdachte, fände er vielleicht Gründe, sie zu verwerfen. Besser, bei weitem besser war es, sie kopfüber in die Tat umzusetzen.

    Saleh kam auf dem Boden in der Wohnung des Dschinns wieder zu Bewusstsein. Sein Kopf fühlte sich an, als hätte ihn jemand ausgekratzt und als Rührschüssel benutzt. Er lag eine Weile da und versuchte, sich daran zu erinnern, was geschehen war. Hatte er einen Anfall gehabt? Nein, er fühlte sich eher, als wäre er aus einem Albtraum erwacht, der bereits verblasste und nur das Gefühl der Angst in seinem Körper zurückgelassen hatte. Jetzt erinnerte er sich, jemand hatte an die Tür geklopft – er hatte geöffnet …
    Und im Bruchteil einer Sekunde brach die gesamte Begegnung mit dem Fremden wieder über ihn herein. Er rappelte sich auf und hielt sich am Türknauf fest, als er schwankte.
Er konnte wieder sehen!
Der Raum wurde nur schummrig vom Kerzenlicht erhellt, aber dennoch! Wann waren ihm Schatten so klar und farbenprächtig erschienen? Die Flammen leuchteten hellorange und gelb und flackerten dann blau, viel zu hell, um sie lange anzusehen. Die Kissen, auf denen er geschlafen hatte, bezogen mit billiger genoppter Baumwolle, erschienen ihm jetzt als Meisterwerke der Form und Textur. Er streckte eine Hand aus und berührte sie mit der anderen: Sie war genau dort, wo er sie vermutet hatte. Sein Gesicht war warm und nass. Hatte er sich bei seinem Sturz verletzt? Nein, er weinte.
    Auf dem Schreibtisch sah er etwas funkeln.
    Er griff nach der größten Kerze und trat näher. In einer Ecke des Schreibtischs stand eine Sammlung kleiner Figuren aus Metall, insgesamt vielleicht ein Dutzend. Er sah Vögel, Insekten, sogar eine winzige Kobra mit ausgebreiteter Haube. Daneben lag eine Lederrolle mit Werkzeug, dünne Ahlen und zerbrechliche gebogene Nadeln, wie sie ein Chirurg oder Zahnarzt benutzen mochte. Oder ein Kunstschmied.
    Er holte die anderen Kerzen und stellte sie neben den Figuren auf. Manche waren fertig und auf Hochglanz poliert; andere schienen sich noch in Arbeit zu befinden. Die Schlange zeugte von großer Kunstfertigkeit, das Schuppenmuster musste eine unglaubliche Geduld erfordert haben. Er bewunderte die elaborierten Insekten aus Blechabfällen, deren Natur nur angedeutet war: die langen Beine und der Rüssel einer Gottesanbeterin, der runde glänzende Panzer eines Käfers. Der Ibis andererseits wirkte ungeschickt und aus dem Gleichgewicht – stimmte vielleicht etwas mit dem Schnabel nicht? Er nahm ihn in die Hand und betrachtete ihn. Eine Hälfte war geglättet wie ein frustriert ausradierter Fehler.
    Wieder brannten Tränen in seinen Augen. Die Figürchen waren wunderschön und wären es auch gewesen, wenn sie nicht zu den ersten Dingen gehört hätten, die er nach seiner Heilung erblickte. Es waren Werke der Sehnsucht, einsamer Gewissenhaftigkeit. Er hätte sie ihrem arroganten, sarkastischen, schreckenerregenden Schöpfer nicht zugetraut.
    Und der alte Mann? Was hatte er mit dem Figurenschmied zu schaffen? Saleh war so mit seiner wiederhergestellten Sehkraft beschäftigt gewesen, dass er ihn fast vergessen hätte, doch jetzt erinnerte er sich an den unvorstellbaren Schmerz, den offensichtlichen Widerwillen des Mannes. Er hatte Saleh irgendwie geheilt – aber nicht aus Freundlichkeit oder Mitgefühl oder weil er sich als Heiler dazu verpflichtet gefühlt hatte. Saleh war nur ein Mittel zum Zweck für ihn gewesen, die Krankheit in seinem Kopf ein Hindernis auf dem Weg zu seinem Ziel. Und sein Ziel war offenbar, den Schmied zu finden. Saleh bezweifelte, dass der Mann eine friedliche Begegnung im Sinn hatte.
    Er hielt den unfertigen Ibis hoch und betrachtete ihn im Schein der Kerze. Einen Tag zuvor, sogar noch ein Stunde zuvor hätte er dem alten Mann liebend gern gesagt, wo er sein Opfer finden würde, und ihm dabei viel Glück gewünscht.
    Er zog seinen Mantel an, steckte den Ibis in die Tasche und blies die Kerzen aus. Er würde in die Bowery spazieren und die Welt neu sehen. Und wenn er unterwegs zufällig den Schmied träfe, dann würde er ihn vielleicht warnen.

    Geleitet von Salehs Erinnerung folgte Yehudah Schaalman der Zauberspur nach Osten. Jetzt stieß er weder

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