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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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seiner Brille, würde er nie jemandem erzählen – nicht der Polizei, nicht seinen Angestellten, nicht einmal dem Priester, bei dem er jeden Donnerstag die Beichte ablegte. In diesem kurzen Augenblick sah er die beiden Gestalten verwandelt. Wo der magere alte Mann gewesen war, stand jetzt ein anderer, nackt, das Gesicht unter den schmutzigen Haarbüscheln sonnenverbrannt. Und wo der Mann, den er als Ahmad kannte, gewesen war, stand etwas, was kein Mann war, überhaupt kein irdisches Geschöpf, sondern eine Art flimmernder Vision – wie die Luft über einer Straße an einem sengend heißen Tag oder eine Kerzenflamme, die im Wind flackert.

Kapitel  25
    I
m Augenblick der Berührung trat ein verborgener See der Erinnerung über die Ufer. Er überflutete ihre Gedanken und überwältigte sie beide, versenkte sie in Bildern, Empfindungen, Eindrücken.
    Wo zuvor die Lücke im Gedächtnis des Dschinns gewesen war – zwischen dem Moment, als er einen Falken in einem blutroten Sonnenuntergang hatte kreisen sehen, und dem Augenblick, als er auf dem staubigen Boden von Arbeelys Werkstatt wieder zu sich kam –, waren jetzt Wochen, Monate voller Zeit. Er sah ein junges Beduinenmädchen, das auf seinen glitzernden Palast im Tal schaute; und dann sah er sich selbst, wie er in seine Träume eindrang. Er sah, wie er das Mädchen wieder und wieder besuchte und wie es ihn immer mehr faszinierte. Er sah, was er zuvor nicht hatte sehen können, wie die Tage zwischen seinen Besuchen für ihn so schnell und für das Mädchen so langsam vergingen; er sah die Zeichen dafür, dass es bald schon nicht mehr klar zwischen Traum und Realität unterscheiden konnte.
    Er sah, und konnte nicht wegsehen, wie er ein letztes Mal in ihren Geist eindrang. Er spürte, wie sie ihn begierig zu ihrer eingebildeten Hochzeit zog (und dass er sich nicht wehrte), spürte die Lust, die ihn blind für die Gefahr machte; und dann die Panik, als sie erwachte, und der stechende, entsetzliche Schmerz, als er sich von ihr losriss.
    Er sah, wie nahe er der Auslöschung gekommen war. Er sah, wie er sich von den Schreien ihrer Familie abwandte und sich in den sicheren Hafen seines Glaspalastes flüchtete.
    Und dann sah er, was folgte.
     
    Der Tag neigte sich allmählich seinem Ende zu. Der Dschinn schwebte über den Zinnen seines Glaspalastes und bemerkte gereizt, wie die Sonne tiefer sank.
    Seit seinem letzten, katastrophalen Besuch bei dem Beduinenmädchen war fast eine Woche vergangen, und er war immer noch nicht vollständig genesen. Tagsüber hing er seitdem reglos im Sonnenschein, damit die Hitze ihn wieder zusammenflickte. Doch nachts zog er sich in seinen Palast zurück, wo das Glas ihn schützte. Die Nächte waren ihm jetzt lästig: Die noch nicht geschlossenen Wunden
juckten
, und er wurde ungeduldig und schlecht gelaunt. Noch ein paar Tage, und er wäre wieder stark genug für seinen lange aufgeschobenen Ausflug an seinen Geburtsort, zu seinen Artgenossen. Warum, warum nur war er nicht früher aufgebrochen? Er war zu fasziniert von den Menschen gewesen und hatte sich zu Selbstgefälligkeit und Wagnissen verlocken lassen. Wann immer er jetzt an Fadwa dachte, schauderte er angesichts seiner eigenen Arglosigkeit.
    Nicht, dass er dem Mädchen die Schuld gab an dem, was geschehen war. Nein, es war einzig und allein sein Fehler gewesen. Er war viel zu angetan gewesen von ihr, zu beeindruckt von der Hartnäckigkeit, mit der sie und ihr Volk an der Wüste hingen, um jedes Weizenkorn und jeden Tropfen Milch kämpften. Er hatte Tapferkeit mit Weisheit verwechselt und nicht gesehen, dass es ihrem Intellekt an einer gewissen Reife mangelte. Nun, er hatte seine Lektion gelernt. Vielleicht würde er sich hin und wieder gestatten, aus der Ferne eine Karawane zu beobachten; aber ansonsten war er mit ihnen fertig. Keine Tändeleien mit Menschen mehr. Die alten Dschinn hatten recht. Die zwei Völker waren nicht dazu bestimmt, miteinander zu verkehren. Gleichgültig, wie faszinierend und sinnlich diese Begegnungen auch sein mochten, ihr Preis war bei weitem zu hoch.
    Aus der Sicherheit seines Palastes sah der Dschinn zu, wie das Dämmerlicht Schatten auf die Mauern warf. Er würde noch ein paar extra Tage warten, bevor er aufbrach. Er wollte nicht, dass Wunden oder Narben von seinem Missgeschick kündeten. Niemand sollte erfahren, wie nahe er seiner eigenen Vernichtung gekommen war.
    Hilfe!
    Er drehte sich erschrocken um. Von weit weg drang eine Stimme durch die Mauern

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