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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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Finger unter die Augenbinde. Er schloss die Augen und murmelte etwas. Nach einem Augenblick regte sich Fadwa nicht mehr – und dann schrie sie, so laut und lang anhaltend, als würde ihr die Seele aus dem Körper gerissen. Der Dschinn schauderte, wollte sich die Ohren zuhalten, konnte sich jedoch nicht rühren.
    Schließlich verstummte der Schrei, und das Mädchen lag reglos da. Ibn Malik lächelte, obwohl er noch erschöpfter aussah als zuvor. Er entfernte die Augenbinde und den Stofffetzen um ihre Handgelenke und trat zurück.
    »Geh zu ihr«, sagte Ibn Malik zu dem Dschinn. »Weck sie auf.«
    Obwohl er völlig kraftlos war, trugen ihn seine Beine zu Fadwa. Der Zauber zwang ihn dazu, sich neben sie zu knien und sanft ihre Schulter zu schütteln. »Fadwa«, sagte er gegen seinen Willen.
Wach nicht auf
, dachte er.
Mach die Augen nicht auf.
    Das Mädchen regte sich, hob eine Hand, rieb sich die Augen und wand sich, weil ihre Handgelenke schmerzten. Der Palast war vom letzten Dämmerlicht erfüllt, das eine blaue Aura um ihr bleiches, gezeichnetes Gesicht bildete und ihr zerzaustes Haar in ein tiefes Schwarz tauchte. Sie schlug die Augen auf und sah den Dschinn. »Du bist es«, murmelte sie. »Ich träume … nein, ich
habe
geträumt …«
    Sie runzelte verwirrt die Stirn. Langsam setzte sie sich auf und schaute sich um.
    »Vater!«
, schrie sie.
    Und dann zwang ihn der Zauber wieder, sich zu bewegen. Er neigte sich über sie, wie Ibn Malik es getan hatte, und legte ihr die Hände um den Hals. Er spürte, wie ihre zierlichen Knochen unter seinen Fingern nachgaben und brachen, spürte, wie ihre Hände kratzten und ihn ins Gesicht schlugen. Er konnte den Blick nicht von ihren Augen wenden, die ihn ungläubig anstarrten, bevor sie aus den Höhlen traten und schließlich erloschen.
    Endlich ließ er sie los. Seine Hände bewegten sich noch, griffen in die Luft. Er sah zu, bis sie innehielten.
    »Jetzt hast du verstanden«, sagte Ibn Malik.
    Und es stimmte. Er verstand. Er starrte auf die kalten Glaswände und versuchte, nichts zu empfinden.
    Der Hexer legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ich glaube, das reicht für heute«, sagte er. »Ruh dich aus, damit du wieder zu Kräften kommst. Morgen beginnt unsere eigentliche Arbeit.« Er schaute sich in dem riesigen Saal um. »Bedauerlicherweise musst du dich auf noch eine Enttäuschung gefasst machen. Dein neues Zuhause ist nicht annähernd so elegant wie dieses.«
    Aus seinem zerrissenen Umhang zog er eine Kupferflasche mit langem Hals, die mit einem komplizierten Muster aus Schnörkeln und Schleifen verziert war. Er hielt ihre Öffnung dem Dschinn entgegen und murmelte weitere barsche, bedeutungslose Worte.
    Ein greller Blitz blendete den Dschinn und tauchte den Saal in gleißendes Licht. Er empfand ein schreckliches Gefühl der
Verkleinerung
, während der Zauber des Hexers ihn komprimierte, sein Wesen auf einen winzigen Funken reduzierte. Langsam saugte die Flasche ihn ein – und die Zeit dehnte sich zu einem langen Augenblick, der nach Metall schmeckte und glühend heiß und unerträglich qualvoll war.
     
    Und hier endeten die Erinnerungen des Dschinns.
    Aber es waren nicht die einzigen Erinnerungen, die ihm in diesem Moment wieder zugänglich waren, denn die Bindung erstreckte sich in beide Richtungen. Der Dschinn sah sich selbst, erinnerte sich an das, was er getan hatte – und er sah auch die Erinnerungen des Hexers Ibn Malik, empfand seinen Triumph, als er den Dschinn mit Abu Yusufs Blut versklavte und ihn zwang, Fadwa zu töten. Wie zwei Muster, die sich überlagern, strebten ihre Erinnerungen aufeinander zu und auseinander, überlappten und verwoben sich. Er war in der Flasche, gefangen in diesem endlosen Augenblick; und er stand allein im Palast aus Glas, eine warme Kupferflasche in der Hand.
     
    Ibn Malik steckte die Flasche in die Tasche seines Umhangs. Dann taumelte er bis zur nächsten Mauer und ließ sich auf den Boden sinken. Sein Atem ging flach.
    Die Anstrengungen des Tages hatten ihn stärker erschöpft, als er erwartet hatte. Er hatte nicht vorgehabt, den Dschinn so rasch in die Flasche zu stecken, aber es wäre seiner Autorität nicht zuträglich gewesen, wenn der Dschinn gesehen hätte, wie er vor Müdigkeit keuchte. Dennoch, was für ein Tag, was für eine beispiellose Leistung! Nur den Tod des Mädchens bedauerte er; was für eine Verschwendung, so ein junges und schönes Ding zu töten, wenn sie ihm in seinem zukünftigen Palast als

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