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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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wüssten.‹«
    Arbeely runzelte die Stirn. »Du hältst mich für ein seltsames Wesen?«
    »Du hast mich überhaupt nicht verstanden.« Der Dschinn streckte sich auf dem Bett aus und starrte an die Decke. »Und ja. Ich finde, dass Menschen seltsame Wesen sind.«
    »Wir tun dir leid. In deinen Augen sind wir an Händen und Füßen gefesselt.«
    Der Dschinn dachte einen Augenblick nach. »Ihr bewegt euch so langsam«, sagte er.
    Sie schwiegen eine Weile, dann seufzte der Dschinn. »Arbeely, ich habe dir versprochen, dass ich die Werkstatt nicht verlassen werde, bis du die Zeit reif dafür hältst, und ich habe mein Versprechen gehalten. Aber ich habe ernst gemeint, was ich gesagt habe. Wenn ich meine Freiheit nicht wiederkriege, zumindest ein bisschen was davon, werde ich wahrscheinlich wahnsinnig.«
    »Bitte«, beschwor Arbeely ihn. »Nur noch ein paar Tage. Wenn es funktioniert –«
    »Ja«, sagte der Dschinn, »ja, ich weiß.« Er stand auf und ging zum Fenster. »Mein einziger Trost ist, dass ich in einer Stadt gelandet bin, wie ich sie mir nie hätte vorstellen können. Und ich will das Beste daraus machen.«
    In Arbeelys Kopf schrillten die Alarmglocken: Es war nicht ratsam, nachts durch unbekannte Straßen voller Banden und Mordgesellen, Bordellen und Opiumhöhlen zu schlendern. Aber der Dschinn sah so sehnsüchtig aus dem Fenster und über die Hausdächer nach Norden. Er dachte daran, wie der Dschinn ihn, den Menschen, beschrieben hatte, an Händen und Füßen gefesselt. »Bitte«, sagte er nur. »Sei vorsichtig.«
     
    Nach der erdrückenden Enge von Arbeelys Wohnung wirkte die Werkstatt nahezu riesig. Der Dschinn saß allein an der Werkbank und maß Lötzinn und -paste ab. Mit dem Zinn musste er vorsichtig sein; seine Hände waren so warm, dass es schmolz, wenn er es zu lange in den Fingern hielt. Arbeely hatte ihm geduldig gezeigt, wie er das Zinn entlang einer Lötstelle verteilen musste, doch als der Dschinn es versuchte, tropfte es ihm von den Fingern. Nach ein paar weiteren Versuchen machte er Fortschritte, aber seine Geduld wurde dabei auf eine harte Probe gestellt. Er sehnte sich danach, die Ränder einfach mit den Fingern zu schmelzen, doch das hätte dem Sinn der Übung widersprochen.
    Es ärgerte ihn, dass er die einzige, ihm noch verbliebene Fähigkeit nicht nutzen durfte. Nie zuvor hatte er wirklich bedacht, wie viele seiner Kräfte ihm außerhalb seiner natürlichen Gestalt versagt blieben. Hätte er es gewusst, hätte er sie häufiger ausprobiert, statt einfach nur Karawanen zu verfolgen. Die Fähigkeit, in Träume einzudringen zum Beispiel, hatte er kaum je ausgeübt.
    Auch diese Fähigkeit variierte wie alle anderen heftig zwischen den unterschiedlichen Gattungen von Dschinn. Die minderen
Ghule
und
Ifrits
ergriffen brutal von einem Menschen Besitz, um sich zu amüsieren oder sich kleinlich zu rächen. Der Besessene wurde zu einer schlecht geführten Marionette, bis der Dschinn der Sache überdrüssig wurde und das Spiel aufgab. Wem das widerfuhr, war auf Dauer geschädigt; manche starben sogar an dem Schock. Im schlimmsten Fall war der Dschinn im Kopf des Menschen gefangen. Dann wurden beide, Mensch und Dschinn, mit großer Wahrscheinlichkeit wahnsinnig. Wenn der Mensch großes Glück hatte, war ein Schamane oder Zauberer zur Hand, der den Dämon aus seiner Beute trieb. Einmal war der Dschinn einem seiner minderen Artgenossen begegnet, kurz nachdem dieser aus einem Menschen ausgetrieben worden war. Das Ding wand sich brennend auf einem verkrüppelten Baum, plapperte und heulte, während die Äste in seiner Nähe schwelten. Der Dschinn hatte mit einer Mischung aus Mitleid und Ekel zugesehen und schließlich einen weiten Bogen um den Baum gemacht.
    Die Fähigkeiten des Dschinns waren nicht so primitiv wie diese simple Besitzergreifung. Er konnte schmerzlos in einen Kopf eindringen und die Gedanken beobachten, ohne selbst bemerkt zu werden. Doch diese Fähigkeit war mit Einschränkungen verbunden. Aber dazu war er nur in seiner natürlichen Gestalt in der Lage, und nur wenn das Objekt schlief, sein Geist offen und ungeschützt war. Er hatte diese Fähigkeit lediglich ein paar Mal bei minderen Tieren ausprobiert. Schlangen, so lernte er, träumten in Gerüchen und Vibrationen, ihre Zungen schossen heraus und schmeckten die Luft, ihre langen Körper waren fest auf den Boden gepresst. Schakale träumten in Gelb, Ocker und duftenden Rottönen, erlebten im Schlaf noch einmal, wie sie ihre Beute

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