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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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Dschinns zurück. Da: ein Funke. Winzig und flackernd, aber unleugbar. »Er lebt«, sagte er. Die Frau schrie vor Erleichterung auf. »Aber nur ganz knapp«, sagte er. »Er ist fast tot.«
    »Er braucht Wärme«, sagte die Frau. »Ein Feuer.« Sie schaute sich hektisch um, als könnte sie praktischerweise gleich hier ein Feuer finden.
    Wärme, Feuer. Saleh erinnerte sich an etwas, an gespenstische Farben. Er sah einen frostweißen Garten, ein riesiges Haus mit zahllosen Giebeln und darauf vier Schornsteine, die grauweißen Rauch in den Winterhimmel bliesen.
    Ich möchte dich bitten, bei Sophia Winston zu klingeln und dich für mich zu entschuldigen.
    »Ich kenne einen Ort«, sagte er. »Aber wir müssen ihn tragen.«
    Daraufhin hob die Frau den Dschinn auf, als wäre er so leicht wie ein Scheffel Weizen – und Saleh dämmerte der Verdacht, dass er es nicht mit einem, sondern mit zwei unheimlichen Wesen zu tun hatte.
    »Doktor Saleh«, sagte sie. »Wie schnell können Sie laufen?«

Kapitel  27
    A m Rand von Chinatown, in einer Zelle des 5 . Polizeireviers lag ein alter Mann reglos auf dem schmutzigen Boden.
    Der wachhabende Polizist schaute auf seiner Runde durch die Gitterstäbe. Der alte Mann war ein paar Stunden zuvor bewusstlos eingeliefert worden und hatte sich noch immer nicht gerührt. Winzige Glassplitter steckten in seinem Gesicht; sein Bart und sein kahler Kopf waren blutverkrustet.
Dreckiger Anarchist
, hatte der Wachtmeister gesagt, der ihn hereingeschleppt hatte, und ihm einen Stiefel in die Rippen gestoßen; aber er sah nicht aus wie ein Anarchist. Er sah aus wie ein Großvater.
    Diverse Zellengenossen waren im Lauf der Stunden gekommen und gegangen. Ein paar hatten versucht, die Taschen des alten Mannes auszuleeren, jedoch nichts gefunden, was das Stehlen wert gewesen wäre. Jetzt lag er allein da, der letzte offene Fall der Nachtschicht.
    Der Polizist schloss die Zellentür auf und öffnete sie langsam, damit sie laut in den Angeln quietschte. Der Mann regte sich noch immer nicht. Das Licht war zwar schlecht, dennoch sah der Polizist, als er sich dem Mann näherte, dass seine Augen unter den Lidern rollten und die Kiefer fest zusammengebissen waren. Seine Finger zuckten rhythmisch. Hatte er einen Anfall? Der Polizist nahm den Schlagstock aus dem Gürtel, neigte sich vor und stieß mit dem Stock gegen seine Schulter.
    Eine Hand schoss hoch und packte ihn am Handgelenk.
     
    Der menschliche Geist ist nicht dafür bestimmt, Erinnerungen von tausend Jahren aufzunehmen.
    In dem Augenblick, als er den Dschinn berührte, platzte der Mann, der sich als Yehudah Schaalman kannte, aus allen Nähten. Er wurde zu einem kleinen Babel, in seinem Schädel bekriegten sich Gedanken in Dutzenden Sprachen. Gesichter blitzten auf: hundert verschiedene Gottheiten, männliche und weibliche, Tiergötter und Waldgeister, ihre Züge ein verschwommenes Durcheinander. Er sah kostbare vergoldete Ikonen und grob gemeißelte Büsten, heilige Namen geschrieben mit Tinte, mit Blut, auf Steine und in farbigen Sand. Er blickte an sich hinunter und sah, dass er ein samtenes Gewand trug und ein silbernes Weihrauchgefäß in der Hand hielt; er war nackt und mit Kreide bemalt und hatte Hühnerknochen in den Händen.
    Die Ereignisse seines Lebens begannen auseinanderzubrechen. Seine Kindheitsfreunde kamen in Seide und samtenen Schuhen in die Schule und mischten die Tinte in Schalen aus Jade. Ein Gefängniswärter stand über ihm in der Kutte eines Mönchs, die Kapuze aufgesetzt, in der Hand eine Peitsche. Die Tochter des Bäckers wurde dunkelhäutig und schwarzäugig, ihre Schreie wie das Brausen eines unsichtbaren Ozeans.
    Sein Vater hob ihn aus einer hölzernen Wiege; um das Handgelenk trug der Mann eine enge eiserne Schelle. Seine Mutter nahm ihn auf den Arm, legte ihn an eine Brust aus Lehm.
    Yehudah Schaalman schlug in der Strömung um sich, rang nach Luft und ging unter.
     
    In einem Moment wäre es vorbei, dennoch kämpfte er. Blind streckte er die Hand, und seine Finger schlossen sich um eine Erinnerung, die ihm gehörte, ihm ganz allein.
    Er war wieder neunzehn und träumte. Da war ein Weg, eine Tür, eine sonnenbeschienene Wiese, in der Ferne ein Wäldchen. Er machte einen Schritt, wurde gepackt und festgehalten. Eine Stimme sprach.
    Du hast hier nichts verloren.
     
    Der alte Zorn und der alte Schmerz wurden neu entfacht, so frisch und heftig wie zu Urzeiten, und verwandelten sich in seiner Faust zu einer Rettungsleine. Er

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