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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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zweite zerstört.
Er hatte ihr den Zettel gestohlen? Und auch er war Joseph Schall begegnet? Sie überkam das schwindelerregende Gefühl, dass sich irgendwo überaus wichtige Ereignisse zutrugen, während sie mit anderem beschäftigt war. Sie las die Botschaft noch einmal, versuchte, sie zu verstehen, bis sie bemerkte, was sie in ihrer Verwirrung übersehen hatte: den verzweifelten und entschlossenen Tonfall. Er ging nicht einfach aus der Stadt weg. »O Gott«, sagte sie entsetzt. »Anna, hat er gesagt, was er vorhat?«
    »Nein. Aber Chava, er sah schrecklich aus. Als wollte er etwas Fürchterliches tun.«
    Sich selbst etwas antun?
wollte sie fragen, doch das war nicht nötig. Annas Gedanken zeigten ihr furchtsame Visionen von Stricken, Pistolen und Fläschchen mit Laudanum. Nein, sie konnte nicht glauben, dass er so etwas tun würde – aber hatte er ihr das Papier nicht zurückgegeben, weil er selbst vorhatte, was er bei ihr verhindert hatte? Leise Panik überkam sie. Der verschleierte Geist des Dschinns hätte ihr nicht mehr gesagt als diese Nachricht – aber konnte sie es sich nicht denken? Er würde weder Gift noch einen Strick und auch keine Pistole benutzen. Sondern Wasser.
    »In welche Richtung ist er gegangen? Nach Osten, zum Fluss?« Anna schüttelte verdattert den Kopf. Vielleicht war es schon zu spät –
    Die zerfledderten Seiten im Mehlsack riefen sie. Hatte sie nicht eine Seite mit der Überschrift
Aufenthaltsort einer Person bestimmen
gesehen? Ein einziges Mal konnte sie Schalls Zauberei doch wohl benutzen, oder? Sie griff nach dem Mehlsack, wollte seinen Inhalt auf dem Boden verstreuen – und hielt inne.
Warte
, sagte sie sich.
Denk nach.
Der Dschinn würde sich niemals für die Docks am East River oder die ölverschmutzte Bucht oder etwas ähnlich Unelegantes entscheiden. Sie brauchte keine geheimen Schaubilder oder Formeln, um zu wissen, wohin er unterwegs war. Sie wusste es; sie kannte ihn.
    Aber was war mit Schalls Zaubersprüchen? Sie durfte sie nicht in der Bäckerei lassen; sie musste sie vor Schall verstecken, irgendwo, wo er niemals hinkäme. Sie drückte Anna den Sack in die Arme und sagte: »Nimm das und versteck es irgendwo, wo niemand danach suchen wird. An einem Ort, den nur du kennst. Nein, sag mir nicht wo, denk nicht einmal daran.«
    »Was? Chava, weißt du, wie schwer es ist,
nicht
an irgendetwas zu denken –«
    »Denk einfach nicht! Schau den Sack nicht an, und sag es niemandem, hast du verstanden?«
    »Ich verstehe überhaupt nichts«, sagte das Mädchen wehleidig.
    »Versprich es mir!«
    »Na gut, ich verspreche es, wenn es so wichtig ist.«
    »Das ist es«, sagte der Golem. »Danke, Anna.« Und dann rannte sie zur Hintertür hinaus und die Feuerleiter hinauf aufs Dach und dem Dschinn hinterher, so schnell sie konnte.

    Der Dschinn fing Saleh auf, als er umfiel, und trug ihn zu einer Bank in der Nähe, ein weiterer Obdachloser, der den Morgen verschlief. Er hatte schnell gehandelt, niemand hatte ihn dabei beobachtet. Er vergewisserte sich, dass der Mann noch atmete, und ging weiter, stieg die Stufen hinunter in den schattigen, dunklen Säulengang. Seine Schritte hallten zwischen den gekachelten Wänden wider, und dann trat er hinaus ins Sonnenlicht, ging über die weite gepflasterte Fläche bis zum Rand des Brunnens.
    Der Engel über den Wassern schaute auf ihn herab und wartete geduldig.
    Die Umgebung war nahezu menschenleer; nur ein paar Männer, die den Park als Abkürzung nutzten, eilten von ihren zwielichtigen nächtlichen Aktivitäten nach Hause. Den Hut tief ins Gesicht gezogen, gingen sie vornüber gebeugt, kämpften gegen die Müdigkeit an, wie es Chava einst sehr genau beobachtet hatte. Sie waren kein Problem.
    Am Brunnen war es still, die Wasserspiele abgeschaltet. Abgesehen von einem leisen Plätschern war nichts zu hören. Er verspürte das merkwürdige Bedürfnis, die Schuhe auszuziehen, er tat es und stellte sie neben den Brunnen. Einen Augenblick lang überlegte er, ob er zu Saleh zurücklaufen und ihm sagen sollte, dass es viele Menschen gab, die eine Entschuldigung verdienten – Arbeely zum Beispiel und der kleine Matthew und Sam Hosseini, weil die Ketten nicht fertig waren. Doch die Zeit schritt voran, und er konnte es sich nicht mehr erlauben. Zudem hatte er dafür gesorgt, dass die wichtigste Entschuldigung überbracht wurde, als er an Annas Tür geklopft hatte.
    Er blickte erneut zum Engel hinauf, zu ihrem mitfühlenden, besorgten Gesicht. Sie sah

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