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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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ihr ähnlich: die unauffälligen, aber angenehmen Züge, der Schwung des Mundes, das gewellte Haar. Ein kleiner Trost zumindest.
    Er stieg über den Rand in das Becken, schauderte, als er das Wasser berührte und eine träge Mattigkeit seine Beine hinaufkroch. Ohne weiter nachzudenken, beugte er sich vornüber und ließ sich unter die Wasseroberfläche gleiten und legte sich auf den Boden des Brunnens.

    Der Golem rannte.
    Über sechzig Blocks befanden sich zwischen ihr und ihrem Ziel, und die Sonne stieg bereits über dem East River auf. Ein paar Stunden früher hätte sie in der Dunkelheit rennen können, lautlos und unerkannt. Bei Tageslicht würde man sie bemerken.
    Es war ihr gleichgültig.
    Sie rannte, von Dach zu Dach, durch das deutsche Viertel, der East River zu ihrer Rechten. Aus dem Schlaf gerissene Männer blinzelten, sie hörte ihre überraschten Schreie, als sie Übergänge aus Brettern ignorierte und über die schmalen Straßen darunter sprang. Sie wich Schornsteinen, Wäscheleinen, Wassertürmen aus und zählte die Blocks.
Neun, zehn, elf, zwölf.
    Die Zeit verlangsamte sich, während sie voranstürmte.
Zwanzig, einundzwanzig, zweiundzwanzig.
Sie ließ den Union Square hinter sich, den Madison Square Park. Wo war er jetzt? An der 59 th Street? Auf der Droschkenstraße? War es schon zu spät? Sie rannte noch schneller und konzentrierte sich: Ein Fehltritt bei dieser Geschwindigkeit hieß Lebensgefahr. Der Wind war ein leises hohes Pfeifen in ihren Ohren. Kinder in den oberen Stockwerken starrten ihr aus Fenstern nach und erzählten ihren Freunden später, dass sie eine Dame gesehen hatten, die schneller lief, als die Hochbahn fuhr.
Achtunddreißig Blocks. Neununddreißig. Vierzig.
    Endlich tauchte der Park als fernes grünes Viereck zwischen den Gebäuden auf. Sie flog eine Feuerleiter hinunter, erschreckte Schläfer auf den Treppenabsätzen. Und dann war sie auf der Straße, überquerte Avenues, eine schlicht gekleidete Frau, die dem morgendlichen Verkehr auswich wie ein Fisch, der gegen einen Schwarm anschwamm. Eine Straßenbahn bog um die Ecke, und sie rannte im letzten Moment an ihr vorbei, ignorierte die ungläubigen Ängste der Fahrgäste, die sie auf sich zurasen sahen wie eine Kanonenkugel.
    Sie war an der 59 th Street, sie war im Park. Sie rannte die Droschkenstraße entlang, den baumgesäumten Weg, spürte, wie die wachsenden Dinge ihre Energie an sie weitergaben. Vor ihr stand ein Mann in zerlumpter Kleidung wankend von einer Bank auf und hielt sich vorsichtig eine Hand an den Kopf. Er richtete sich auf, er hatte ein noch frisches blaues Auge und starrte ihr mit offenem Mund nach.
    Die Treppe hinunter, durch den Säulengang und über die gepflasterte Fläche, und noch bevor sie dort war, sah sie ihn zusammengerollt wie ein schlafendes Kind auf dem Grund des Beckens liegen.
    »Ahmad!«
Sie sprang in den Brunnen und tauchte bis zur Taille darin ein, schlang die Arme um ihn, hob ihn hoch und über den Rand. Wasser lief aus seiner Kleidung, als sie ihn auf den Boden legte. Er war kalt und bleich wie Rauch und so schrecklich leicht in ihren Armen, als hätte sich seine Substanz aufgelöst. Hektisch versuchte sie ihn abzutrocknen, aber sie hatte nichts zur Hand – nur ihre eigenen Kleider, die patschnass waren.
    »Ahmad, du musst aufwachen!«
    Ein Mann stand neben ihr und fasste sie am Arm.
    »Lassen Sie mich in Ruhe!«
, rief sie und schüttelte die Hand ab.
    »Ich will Ihnen doch nur helfen!«, schrie er sie auf Arabisch an.
     
    Salehs Kopf pochte.
    Er zuckte zusammen, machte sich Vorwürfe, weil er nicht daran gedacht hatte, dass der Dschinn so etwas tun würde. Hatte er geglaubt, er könnte ihm ausreden, was für ein Vorhaben er sich auch zurechtgelegt haben mochte? Und warum um Himmels willen half er jetzt einer wildfremden Frau dabei, das Geschöpf zu retten, statt sich einfach umzudrehen und nach Hause zu gehen?
    Erstaunlicherweise schien die Frau Arabisch zu verstehen. Sie war beiseitegetreten und sah jetzt mit offensichtlicher Panik zu, wie Saleh den Kopf des Dschinns in die Hände nahm und ihn nach rechts und links drehte. Er fragte sich, wer sie war, woher sie gewusst hatte, wo sie ihn finden würde.
Lass es bleiben
, flüsterte es in seinem Kopf, während er das zu bleiche Gesicht betrachtete und die Brust nach einer Spur Wärme abtastete.
Lass das unheimliche Wesen sterben.
    »Wer sind Sie?«, fragte die Frau.
    »Doktor Mahmoud Saleh«, murmelte er und schob ein Augenlid des

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