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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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brach durch die Oberfläche und schnappte nach Luft.
    Zentimeter um Zentimeter kämpfte er unter Qualen gegen die Strömung und ordnete die Erinnerungen. Seide und Samt fielen von seinen Klassenkameraden ab, der Gefängniswärter trug nicht länger die Mönchskutte. Die Bäckerstochter hatte wieder helle Haut und leuchtend grüne Augen. Er gelangte zu seiner eigenen ersten Erinnerung und ging weiter zurück – zu dem Selbst davor und dann zu dem davor. Er durchlebte jedes Leben vom Tod bis zur Geburt, sah, wie er Götter und Götzen jeder Art verehrte. In jedem Leben war seine Angst vor dem Richterspruch allesverzehrend und sein Glauben absolut. Denn wie sollte es anders sein, wenn jeder Glaube ihm so große Macht verlieh, ihm gestattete, Illusionen heraufzubeschwören, die Zukunft vorherzusehen, mit Flüchen zu belegen? Sein versengtes gestohlenes Buch, der Ursprung all seiner Wunder und Gräueltaten – nie hatte er daran gezweifelt, dass es das Wissen des Allmächtigen enthielt, des Einen, vor dem alle anderen Götzenbilder waren. Bewies die Kraft der Zaubersprüche nicht, dass der Allmächtige die höchste Wahrheit war, die
einzige
Wahrheit? Jetzt sah er, dass die Wahrheiten so zahllos waren wie die Unwahrheiten, dass dem schieren brodelnden Chaos der göttlichen Welt nur das der menschlichen Welt gleichkam. Je weiter er zurückging, umso kleiner wurde der Allmächtige, bis Er nur noch eine von vielen Wüstengottheiten war. Seine Gebote waren keine unaussprechlichen Gesetze, sondern furchtsame Forderungen eines eifersüchtigen Geliebten. Und trotzdem hatte Schaalman sein ganzes Leben in Todesangst vor Ihm verbracht und Seinen Richterspruch in der nächsten Welt gefürchtet – eine Welt, die er nie sehen würde!
    Je weiter er zurückging, umso größer wurde sein Zorn, während er zusah, wie er sich in seinen früheren Leben mit angstvollen und leidenschaftlichen Trugbildern abrackerte. Schneller und schneller spulten sich seine Leben ab – bis er endlich zum ersten kam, der Quelle der Strömung, in der ein uralter, schmutziger Heide namens Wahab Ibn Malik al-Hadid saß.
    Die beiden Männer musterten sich über die Jahrhunderte hinweg.
    Ich kenne dich
, sagte Ibn Malik.
Ich habe dein Gesicht schon mal gesehen.
    Du hast von mir geträumt
, sagte Schaalman.
Du hast mich in einer glitzernden Stadt gesehen, die am Ufer des Wassers aufragt.
    Wer bist du?
    Ich bin Yehudah Schaalman, das letzte deiner Leben. Ich bin der, der alles ins rechte Lot bringt für meine nächsten Leben.
    Deine
Leben?
    Ja, meine. Du warst nur der Anfang. Du hast dich an den Dschinn gefesselt, ohne die Folgen zu bedenken, und bist wieder und wieder gestorben, ohne klüger zu werden. Ich war es, der das Geheimnis gelüftet hat.
    Das wird dir nichts nützen
, sagte Ibn Malik,
wenn du deinerseits stirbst und das Geheimnis mit in den Tod nimmst.
    Ich werde einen Weg finden
, sagte Schaalman.
    Vielleicht, vielleicht auch nicht. Und was ist mit dem Dschinn? Seine Art lebt lange, aber er ist nicht unsterblich.
    Dann darf er eben nicht sterben.
    Du willst ihn also wieder einfangen? Stell sicher, dass es nicht über deine Kräfte geht.
    So wie über deine?
    Die toten Augen waren nur noch Schlitze.
Und wer bist du, wenn nicht ich selbst, in seltsamen Kleidern und eine andere Sprache sprechend?
    Ich bin die Summe von tausend Jahren Unglück und Mühsal! Du magst uns diese kaputte Unsterblichkeit gegeben haben, aber ich werde der Erste sein, der ohne Furcht stirbt!
    Ibn Malik knurrte wütend; aber Schaalman war schneller. Er streckte die Hand aus und packte Ibn Malik um den Hals.
    Du hast mir jede Chance auf Glück genommen
, sagte Schaalman.
    Ibn Malik wand sich in seinem Griff.
Stattdessen habe ich dir grenzenloses Wissen gegeben.
    Du bist vollkommen unwichtig
, sagte sein zukünftiges Selbst und drückte zu.
     
    Der Gestank des Toiletteneimers stieg Schaalman in die Nase, als er zu sich kam. Seine Rippen schmerzten, sein Gesicht war mit brennenden kleinen Schnitten übersät. Er versuchte aufzustehen, aber ein Mann in Polizeiuniform lag auf ihm. Schwarzes Blut lief dem Mann aus den Ohren, kleine Rauchwölkchen stiegen von seinem Oberkörper auf. Schaalman merkte, dass er das Handgelenk des Polizisten umklammert hielt. Er ließ es los und wälzte ihn von sich herunter.
    Die Zellentür war offen. Dahinter befanden sich ein feuchtkalter Flur und dann das Revier. Er flüsterte ein paar Worte und ging ungesehen an der Handvoll Polizisten vorbei, die

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